Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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„Wenn man Erfolg hat, machen selbst die Schmerzen Spaß“

Mit den Eisbären wurde er fast jedes Jahr Meister. Dann wurde sein Körper zum schwersten Gegner. André Rankel über heftige Checks und die Macht von Vertrauen im Eishockey

André Rankel beendete im November seine Eishockeykarriere. Seit 2003 spielte er für die Berliner Eisbären, wurde siebenmal Deutscher Meister, einmal Pokalsieger und gewann 2010 die European Trophy. Hier lässt er seine Karriere Revue passieren.

ZEIT ONLINE: Herr Rankel, Sie haben siebzehn Jahre lang Eishockey ausschließlich bei den Berliner Eisbären gespielt. Wollten Sie nie woanders sein?

Rankel: Ich hatte 2013 lose Gespräche mit Nashville aus der NHL, aber der Wechsel wurde nie konkret. Den Schritt nach Nordamerika hätte ich sicher gewagt, aber ansonsten war ein Transfer für mich nie ein Thema. Ich habe mich voll mit den Eisbären identifiziert. Bei anderen Klubs hätte ich sicher mehr Geld verdienen können, aber das war für mich nie entscheidend.

Ich galt als arbeitsscheuer Wessi.

Andre Rankel

ZEIT ONLINE: Als Sie 2003 zu den Eisbären kamen, soll es schwer vorstellbar gewesen sein, dass Sie als „Wessi“ das Gesicht des Klubs aus dem Osten werden.

Rankel: Ich bin damals von den Preussen aus dem Westen der Stadt zu den Eisbären gewechselt und galt dort als Verräter. Schon in der Jugend hatten sie mir eingetrichtert: Du darfst überall hin, nur nicht zu den Eisbären. Das war eine Rivalität, in der es um mehr ging als den Sport, es ging um Politik. Ich habe mir die Entscheidung auch wirklich nicht leicht gemacht. In meinen ersten Trainingseinheiten bei den Eisbären war ich der „Junge aus dem Westen“ und wurde besonders hart rangenommen. Ich galt als jemand, der von außen in den Klub eindringt.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit „hart rangenommen“?

Rankel: Der Trainer Hartmut Nickel ließ mich Extraschichten machen, weil wir „Wessis“ ja als arbeitsscheu und verwöhnt galten. Doch ich habe mich davon nie unterkriegen lassen und Hartmut mit meiner Arbeit beeindruckt. Er wurde für mich zu einer ganz besonderen Figur, weil er mir nicht nur sportlich, sondern auch menschlich extrem viel beigebracht hat.

ZEIT ONLINE: Wie hat Nickel das gemacht?

Rankel: Als ich einmal während einer Verletzung etwas später in die Kabine kam, hat er mich vor versammelter Mannschaft rundgemacht. Eine Stunde später erklärte er mir den Hintergrund: Obwohl ich noch jung war, hat er mich schon als Führungsfigur gesehen. Ich sollte vorangehen und selbst bei einer Verletzung ein Vorbild fürs Team sein. Hartmut hat mich mehr als die anderen gefordert und an mich geglaubt. Ich hoffe, dass er nun aus dem Himmel hinabschaut und stolz auf meine Karriere ist.

ZEIT ONLINE: Ist dieses Ost-West-Denken noch immer Thema im Eishockey?

Rankel:
Mit dem Wechsel in die große Arena haben sich die Eisbären vom Kiezklub zu einem Verein für ganz Berlin gewandelt. Die Tradition mit dem Namen „Dynamo“ sollte auch immer bewahrt bleiben, das ist wichtig. Mit dem Schlachtruf „Ost-Ost-Ostberlin“ konnte ich mich jedoch nicht identifizieren. Ich finde es auch merkwürdig, wenn ich heute mit jungen Spielern spreche und sie mir sagen: „Ich bin Ossi.“ Dabei sind sie weit nach der Wende geboren. Ich bin 1985 geboren worden, war mit meinem Vater nur einmal an der Mauer, ich kann mit dem Ost-West-Denken nichts anfangen.

ZEIT ONLINE: Mit den Eisbären wurden Sie zwischen 2004 und 2013 siebenmal Deutscher Meister und prägten eine der erfolgreichsten Epochen im deutschen Eishockey. Wie haben Sie das geschafft?

Rankel: Wenn ich mich in der Kabine umgesehen habe, wusste ich bei jedem Einzelnen: Der gibt alles dafür, dass auch du selbst auf dem Eis gut aussiehst. Das war entscheidend. Andere Mannschaften waren auf dem Papier talentierter als wir, doch wir haben uns blind vertraut. Unser Credo lautete, dass wir niemals zwei Spiele nacheinander verlieren dürfen. Eine negative Serie kann dich als Team zerstören. Deswegen war nach jeder Pleite im Training richtig viel Energie zu spüren.

„Allein bei dem Gedanken an dieses Spiel bekomme ich direkt wieder eine Gänsehaut“

ZEIT ONLINE: Im Team war damals auch der erfahrene Ex-NHL-Spieler Stefan Ustorf. Er sagte: „Wenn wir aufs Eis gehen, wird es keine Situation geben, die uns überraschen kann.“ War das so?

Rankel: Wir hatten ein Urvertrauen in unsere Stärke. Symptomatisch dafür war 2012 im Finale das Spiel 4 bei den Adler Mannheim. Wir lagen 14 Minuten vor dem Ende mit 2:5 zurück. Mannheim wäre Meister gewesen. Ich saß wegen einer Sperre auf der Tribüne und um mich herum standen alle Fans auf. Sie sangen sich schon mal warm für die Titelparty. Die Sektflaschen wurden reingerollt. Ich bin sitzen geblieben, habe zwar nichts mehr gesehen, aber zu unserer Videoredakteurin neben mir gesagt: „Warte ab. Sie werden einen Grund bekommen, sich gleich wieder hinzusetzen.“ Bei dem Gedanken daran bekomme ich sofort wieder Gänsehaut.

ZEIT ONLINE: Die Eisbären drehten die Partie und gewannen sensationell in der Overtime.

Rankel: Auch weil die Jungs auf dem Eis das gleiche Gefühl wie ich hatten. Mein Satz war ja nicht nur so daher gesagt, sondern rührte aus einer festen Überzeugung. Noch wichtiger war aber der folgende Tag. Wir hatten zwar ein sensationelles Comeback geliefert, doch das entscheidende Spiel um den Titel stand noch an. Also mussten wir gleich nach dem Sieg in Mannheim alles abhaken. Wenn du das nicht schaffst, kannst du in den Play-offs nicht bestehen. Dann gewannen wir 3:1 und wurden wieder Meister.

ZEIT ONLINE: Wie schafft man das, abhaken?

Rankel: Jeder muss das mit sich selbst klären. Mir hat es immer geholfen, mich auf kommende Spielsituationen mit den Gegenspielern einzustellen. 2013 spielten wir eine unglaublich harte Serie gegen Hamburg, sechs enge Spiele, alle zwei Tage. Das war zermürbend und eine mentale Herausforderung. Gerade dann ist es wichtig, jeden Moment schon vorher zu imaginieren und bereit zu sein, auch die kleinen Zweikämpfe zu gewinnen. Der Gegner muss sofort spüren, dass du da bist.

ZEIT ONLINE: Mit Don Jackson als Trainer gewannen Sie fünf Titel. Was hat ihn ausgezeichnet?

Rankel: Er hat uns bis ins kleinste Detail vorbereitet. Immer und immer wieder die gleichen Abläufe. Donnies Credo war auch: Wenn ihr den Puck habt, macht, was ihr wollt. Wenn ihr ihn nicht habt, sag ich euch, was ihr machen müsst! Denn es ist nie der erste Fehler, also der Verlust der Scheibe, der zum Gegentor führt, sondern meist der Folgefehler. Für mich war wichtig, dass er mir auch in schlechten Phasen vertraut hat. Ich habe mal zwölf Spiele am Stück nicht getroffen, trotzdem hat er mich immer wieder aufgestellt. Andere drücken den Panikknopf und werfen alles um. Manche Trainer haben mich kritisiert oder viel auf mich eingeredet – damit kam ich nicht so klar. Donnie hingegen hat mir gar nicht viel gesagt, weil er wusste, dass ich selbst am härtesten an mir arbeite. Er war einer der wenigen Trainer, die mich wirklich verstanden haben. Deswegen hätte ich auf dem Eis auch alles für ihn getan.

ZEIT ONLINE: Der 85er-Jahrgang mit Ihnen, Florian Busch, Jens Baxmann und Frank Hördler galt als „goldener Jahrgang“. Die SZ titelte einmal: „Generation Rankel“. War das eine Belastung für Sie?

Rankel: Die Konkurrenzsituation war für uns sehr förderlich, weil wir auch gegeneinander um Plätze kämpften. Hinzu kam, dass uns Jacksons Vorgänger Pierre Pagé extrem gefordert hat. In meinem ersten Jahr bei den Profis hatte ich nur vier Tage frei. Am Wochenende spielte ich meist zweimal DEL und einmal Regionalliga, am Montag bekamen wir Einzeltraining. Der Druck entstand erst, als all die erfahrenen Spieler aufhörten und wir 85er in den Fokus gerieten. Ich wollte als Kapitän die Lücke füllen und setzte mich sehr unter Druck. Direkt im ersten Jahr, 2013, holten wir zwar die Meisterschaft, doch dieser Titel wurde in der öffentlichen Wahrnehmung oft vergessen.

„Beim Begriff ,satt‘ werde ich stinkig“

ZEIT ONLINE: Sie gewannen danach keinen Titel mehr. Warum nicht?

Rankel: Unser Klub hatte sich anscheinend für einen Cut entschieden und demnach nicht mehr so viel Geld zur Verfügung  – auch bei den Neuzugängen. Andere Mannschaften haben in dieser Zeit aufgeholt und viel mehr investiert. Danach hatten sich bei uns gewisse Sachen festgefahren. Wir haben zu lange abgewartet, ob sich daran etwas ändert. Einigen Spielern war nicht bewusst, wie viel Arbeit es erfordert, Erfolg zu bestätigen. Die Zufriedenheit war bei manchen zu groß.

ZEIT ONLINE: Im Basketball gibt es die Redewendung von der „disease of more“. Grob gesagt, dass der Erfolg den Misserfolg bedingt – auch weil andere Komponenten als der Sport wichtiger und die Athleten satt werden.

Rankel: Bei dem Begriff „satt“ werde ich immer etwas stinkig. Ich weiß nicht, wie oft uns 85ern das an den Kopf geworfen wurde. Von Medien, von Fans, aber auch intern. Das war Blödsinn. Ich habe immer gesagt: „Warum war ich dann erst nach der siebten Meisterschaft angeblich satt? Warum nicht nach der dritten?“ Nach jener Meisterschaft habe ich in 30 Spielen 17 Tore geschossen. Im Jahr darauf kam ich trotz meiner schweren Nackenverletzung auf 20. Ich war nie satt.

ZEIT ONLINE: In den ersten Meisterjahren dichteten die Fans Ihnen zu Ehren einen Song (André Rankel, du bist der beste Mann), später ein Spottlied auf Ihre Trefferflaute.

Rankel: Ich war in dieser Zeit Kapitän und damit in der Schusslinie. Auf Frank, Jens, Buschi und mich haben alle geschaut. Ich fand das nicht ganz fair, weil die ausgebliebenen Titel nicht nur an uns lagen, sondern eben auch an anderen Mannschaften. Aber darüber redet natürlich keiner. Das ist aus Berliner Sicht verständlich und auch in Ordnung. So ist es eben im Profisport.

„Ich schaffte nicht einmal mehr fünf Liegstütze am Stück“

ZEIT ONLINE: Warum haben Sie es nicht selbst thematisiert?

Rankel: Das klang für mich nach Schuldzuweisung. Ich wollte die Dinge intern und mit den vorhandenen Möglichkeiten lösen. Für mich war eine Saison ohne Titel auch eine verkorkste. Und die Erwartungshaltung der Fans an mich kann man auch als Kompliment verstehen. Gleichzeitig wurde mir aber angelastet, dass ich als Kapitän nicht deutlich genug auf den Tisch gehauen habe. Ich wollte einfach vieles von der Öffentlichkeit fernhalten.

ZEIT ONLINE: Selbst Ihre langwierige Nackenverletzung, die Sie seit Oktober 2013 plagte, haben Sie nicht groß angesprochen.

Rankel: Ich habe es so behandelt, dass es niemandem aufgefallen ist. Nach einem Check bekam ich so starke Schmerzen, dass ich mich auch im Alltag nicht mehr konzentrieren konnte. Ich schloss mich im Zimmer ein und war kurz davor durchzudrehen. Auf dem Eis war ich jedes Mal eine Sekunde zu langsam. Mein Fitnesstrainer führte einfache Treppenläufe mit mir durch: zwei Stufen hoch, eine Stufe runter, zwei Stufen hoch. Bei jedem Fehler sollte ich fünf Liegestütze machen, was für mich als Leistungssportler normalerweise kein Problem gewesen wäre. Doch ich beging so viele Fehler, dass ich keine weiteren Liegestütze mehr geschafft habe. Wir mussten die Übung abbrechen. Niemand konnte mir helfen, die Leute fingen an zu erzählen, dass ich andere Probleme als die Verletzung hätte. Ich war wirklich down. In diesen Momenten stand ich kurz davor, meine Karriere zu beenden.

ZEIT ONLINE: Was war die Lösung?

Rankel: Erst in der Reha in Donaustauf erkannte der Physiotherapeut Basti Arnold, dass mein Atlaswirbel immer wieder rausspringt und eingerenkt werden muss. Selbst wenn der Wirbel fest war, brauchte mein Nervensystem eine gewisse Zeit zur Regeneration. Von 2014 bis 2016 bin ich vor jedem Auswärtsspiel in Bayern einen Tag vor der Mannschaft losgeflogen und mit dem Mietwagen nach Donaustauf gefahren. Wenn der Wirbel eingerenkt war, habe ich am Tag darauf unglaubliches Eishockey gespielt. Fortan bin ich in jeder spielfreien Zeit nach Donaustauf gefahren. Meine Mitspieler scherzten schon, ob ich bei einem Dopingarzt gewesen sei und dass sie auch mitwollen, so deutlich war der Unterschied.

Und was tut dir heute weh?

Rankels Frau nach jedem Spiel

ZEIT ONLINE: Bereuen Sie nach den vielen Verletzungen Ihren Einsatz oder ist es der Preis, den ein Eishockeyprofi zu zahlen hat?

Rankel: Zweiteres. Ich hatte vier Schulter-Operationen in kurzer Zeit, zwei links, zwei rechts. Zum Schluss gab es für mich kein Spiel mehr ohne Schmerzen. Wenn ich nach Hause kam, fragte meine Frau schon: „Und was tut dir heute weh?“ Nun schaffe ich höhere Belastungen mit der Schulter nicht mehr. Doch ich würde alles wieder so machen. Das gehört zum Sport dazu. Wenn du etwas aus voller Überzeugung machst und vielleicht auch noch Erfolg hast, dann machen selbst die Schmerzen Spaß.

ZEIT ONLINE: Sie haben viel eingesteckt, aber auch ausgeteilt. Nach einem heftigen Check 2010 sagten Sie, dass Sie sich für Ihre Aktion schämten. Zwei Jahre später wurden Sie für ein anderes Vergehen zehn Spiele lang gesperrt.

Rankel: Ich habe immer körperlich hart agiert, weil ich diese Energie für mein Spiel brauchte. Den angesprochenen Check würde ich gerne rückgängig machen, auch wenn ich niemanden mit Absicht verletzen wollte. Der Check vor der langen Sperre sah brutal aus, war aber nicht unfair. Ich muss zugeben, dass ich zu oft meine Emotionen nicht im Griff hatte. Erst nach einem Gespräch mit dem Trainer und dem Manager sowie dieser langen Sperre habe ich mein Spiel geändert. Ich habe vor jedem Check überlegt, ob er jetzt notwendig ist. Das hemmt einen Eishockeyspieler natürlich, aber ich wurde nie mehr gesperrt.

ZEIT ONLINE: Sie haben nun nach 17 Jahren Ihre Karriere beendet. Hatten Sie Angst vor der Zeit danach?

Rankel: Auf jeden Fall gehörigen Respekt, auch wenn ich mich selbst nie nur übers Eishockeyspielen definiert habe. Doch der Sport hat mir unglaublich viel Halt gegeben. Ich merke erst jetzt nach der Karriere, wie er mich mental beansprucht hat. Ich habe mich nach jedem Training immer weiter mit Eishockey beschäftigt, war daheim gedanklich nicht wirklich anwesend. Dieser Druck ist nun weg – das empfinde ich als sehr befreiend.

ZEIT ONLINE: Mittlerweile fahren Sie Radmarathons. Wie kam es dazu?

Rankel: Ich habe immer gerne hart gearbeitet. Eishockey war für mich nicht nur ein Spiel gegen eine andere Mannschaft, sondern auch immer gegen mich selbst. Deswegen will ich mich auch nach der Karriere auspowern. Das Radfahren bietet mir einen sehr guten Ausgleich. Ich hoffe, dass ich am Ötztaler Giro teilnehmen kann, dem bedeutendsten Radmarathon in Europa. 238 Kilometer, 5.000 Höhenmeter – wenn du es da in unter neun Stunden ins Ziel schaffst, ist das sehr gut. Das gefällt mir.

ZEIT ONLINE: Haben Sie sich ein besonderes Andenken an Ihre Eishockeyzeit bewahrt?

Rankel: Als kleiner Junge hatte ich noch keinen Eishockeyschläger. Wenn ich bei meiner Oma zu Besuch war, habe ich immer mit einem Besen und einem kleinen Ball gespielt. Sie musste dann zwischen die Stühle ins Tor. Meine Oma ist kürzlich gestorben. Erst nach ihrem Tod habe ich bei ihr zu Hause genau diesen Besen wiedergefunden. Sie hat ihn über 30 Jahre lang aufbewahrt, das wusste ich nicht! Dieser Besen steht jetzt bei mir daheim und ist die schönste Erinnerung an meine Oma. Eigentlich ist es nur ein dämlicher Besen, aber für mich etwas ganz, ganz besonderes.