Schalkes Vizekapitän Pálsson über seine Alkoholsucht und Depression: „Es war reine Selbstsabotage“
Mit Schalke ist Victor Pálsson in die Bundesliga aufgestiegen. Doch hinter ihm liegen dunkle Profijahre. Hier spricht der Isländer über das Trinken als Flucht, seine Depression und den Drogentod seiner Mutter.
spiegel.de Ein Interview von Ron Ulrich 17.05.2022, 15.19 Uhr / Fotos: Dominik Asbach
Der isländische Schalke-Profi Victor Pálsson: »Verstehen Sie, es war reine Selbstsabotage« Foto:
Dominik Asbach / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Victor Pálsson, nachdem Sie vor zwei Wochen den Aufstieg mit Schalke geschafft hatten, hielten Sie noch auf dem Rasen ihren Teamkollegen Simon Terodde lange in den Armen. Was haben Sie ihm dabei ins Ohr gerufen?
Pálsson: Ich schrie: »Du bist nicht nur ein unglaublicher Stürmer, sondern auch ein unglaublicher Mensch – eine Legende.« Noch in der Halbzeit beim Spiel gegen St. Pauli hat Simon sehr mit sich gehadert, weil er im ersten Durchgang ein paar Chancen vergeben hatte. So etwas ärgert ihn. Wir haben ihn aufgebaut und gesagt: »Hak ab, was war. Wir schießen ein frühes Tor und drehen das Spiel.«
SPIEGEL: Terodde lief dann am nächsten Morgen um halb acht in seinen Fußballschuhen heim. Wie war es bei Ihnen?
Pálsson: Ich verließ die Party um fünf, aber in meinen normalen Klamotten. Es war ausgelassen, doch am Anfang haben nicht nur die Fans, sondern auch die Spieler geweint. Von uns fiel eine unglaubliche Last ab, weil wir in der gesamten Saison einem großen Druck ausgesetzt waren. Als komplett neu zusammengestelltes Team sollten wir den Wiederaufstieg schaffen; das war nur möglich, weil sich jeder Einzelne – vom Koch oder den Physios bis zum Spieler – auf diese Gemeinschaft eingelassen hat.
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Zur Person
Victor Pálsson, 31, wurde in Reykjavík geboren. Schon in der Jugend zog es ihn zum FC Liverpool nach England. Es folgte fast jedes Jahr ein Wechsel: Dagenham, Edinburgh, New York, Nijmegen. In jener Zeit war der Alkohol für ihn »eine Form von Flucht«, sagt Pálsson. Er trank viel und erging sich im Glücksspiel. Bei Nijmegen war er deshalb nicht mehr erwünscht. In Helsingborg bekam der Mittelfeldspieler dann die Chance zum Neuanfang. Seitdem ist er trocken. Über den FC Zürich, mit dem er 2018 als Kapitän Schweizer Cup-Sieger wurde, und den Zweitligisten Darmstadt kam Pálsson 2021 zu Schalke. Mit S04 stieg er als Vizekapitän in dieser Saison auf. Pálsson hat bisher 26 Mal für die isländische Nationalschaft gespielt.
SPIEGEL: Was bedeutet Ihnen der Aufstieg persönlich?
Pálsson: Ich werde das nie vergessen. Ein Jahr in einem neuen Umfeld, in einem neuen Team – das waren schon Herausforderungen. Ich bin sehr stolz, mitgeholfen zu haben, den Klub wieder nach oben zu führen. Dieser Aufstieg war der größte Moment in meiner Karriere. Nach allem, was ich durchgemacht habe, spiele ich nun für Schalke in der Bundesliga – im Fußball ist alles möglich.
SPIEGEL: Was genau haben Sie durchgemacht?
Pálsson: Ich trenne meine Karriere in zwei Hälften: von 2007 bis 2014 und von da an bis heute. Der Victor aus der ersten Hälfte hat nichts mit demjenigen zu tun, mit dem Sie jetzt sprechen. Ich habe mich damals von vielen Themen außerhalb des Fußballs ablenken lassen wie dem Glücksspiel und Alkohol. Ich war geplagt von mentalen Problemen, ohne konkret von ihnen zu wissen. Meine Kindheit hatte mir viele Traumata bereitet. Ich bin in einem Umfeld von suchtkranken Menschen groß geworden, wurde deswegen allein gelassen von meinem Vater und meiner Mutter. Wenn du dich diesen Dramen nicht wirklich stellst, bleibt das traumatisierte Kind selbst als Erwachsener in dir. Zu Beginn meiner Karriere trank ich noch aus Spaß und Freude, danach nicht mehr.
SPIEGEL: Sondern?
Pálsson: Ich lief vor meinen Problemen davon.Mit 16 habe ich meinen ersten Vertrag unterschrieben, mit 17 angefangen zu trinken. Als ich 2010 in Liverpool und Edinburgh spielte, hing ich viel auf Partys rum. Danach wechselte ich als 21-Jähriger nach New York – da konnte jeder Tag ein Samstag sein, wenn ich es wollte. Alkohol gab mir plötzlich nicht mehr nur eine spaßige Zeit, sondern eine Trennung von meinem inneren Ich. Es wurde zu einem Mittel, der Realität und meinen Gefühlen permanent aus dem Weg zu gehen. Ich konnte mich den Konflikten und dem Schmerz meiner schweren Kindheit nicht stellen, also griff ich zum Glas. Das Trinken war eine Form von Flucht. Ich hatte nicht das Glück, die richtigen Menschen in meinem Umfeld zu wissen. Außerdem war ich sowieso nicht empfänglich für Ratschläge.
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SPIEGEL: Wie viel haben Sie getrunken?
Pálsson: Anfangs nur an den Wochenenden, dann vermehrt unter der Woche. Meine Leistungen waren nicht schlecht, aber eben auch nicht gut. Ich trainierte häufiger mit einem fürchterlichen Kater und Restalkohol im Blut. Unmittelbar vor den Spielen habe ich nie getrunken, mich auch nicht jeden Tag besoffen. Aber wenn ich trank, dann meistens bis zum Filmriss. Wenn wir einen Tag freihatten, schüttete ich mich zu; und trank am nächsten Tag weiter, um mir nicht eingestehen zu müssen, wie falsch ich mich verhielt. Verstehen Sie, es war reine Selbstsabotage. Ich hatte bis dahin nie gelernt, mich meinen inneren Dämonen zu stellen. Wenn du aber nur alles in dich hineinfrisst, explodierst du irgendwann. So war es bei mir im Winter 2013/14.
SPIEGEL: Was passierte damals?
Pálsson: An Weihnachten 2013 befand ich mich in meiner Heimat Island und wollte nicht mehr zurück zu meinem damaligen Klub Nijmegen in den Niederlanden. Ich war mental total erschöpft und fühlte mich nicht mehr wie ich selbst. In diesem Jahr hatte ich häufig Suizidgedanken. Also begab mich in eine psychologische Klinik, in der ich jeden Tag an Therapiesitzungen mit einem Arzt teilnahm. Zunächst ging es mir besser, doch im Sommer eskalierte die Situation. Wir stiegen mit Nijmegen ab und der Klub teilte mir mit: »Du hast zwar noch einen Vertrag, aber du brauchst nicht mehr wiederzukommen. Wir wollen dich hier nicht mehr!« »Die Fußballwelt ist klein, die Vereine brauchten lediglich einen Anruf, um über mich zu hören: Der macht nur Ärger, er trinkt, er spielt.«
SPIEGEL: Warum?
Pálsson: Ich war mitunter ungenießbar, habe in dieser Zeit sehr oft gelogen – selbst gegenüber meinen Freunden. Damals habe ich die ganze Welt für mein Scheitern verantwortlich gemacht, aber nie mich selbst. Ich habe mit dem Finger auf andere gezeigt und es mir in der Opferrolle bequem gemacht. Im Sommer 2014 schaute ich in den Spiegel und sagte mir: »You are fucked.« Ich bekam keine festen Verträge mehr, wurde nur ausgeliehen oder vor die Tür gesetzt. Die Fußballwelt ist klein, die Vereine brauchten lediglich einen Anruf, um über mich zu hören: »Der macht nur Ärger, er trinkt, er spielt.« Nur ein Verein, Helsingborgs IF in Schweden, lud mich zu einem Gespräch ein.
SPIEGEL: War dies der Beginn Ihrer zweiten Karriere?
Pálsson: Ja. Die Verantwortlichen wollten, dass alles auf den Tisch kommt. Wir sprachen drei Stunden miteinander, bis sie mir immerhin einen Vertrag über drei Monate gaben. Das war eine Art Probezeit – bei dem kleinsten Fehltritt wäre ich raus gewesen. Ich hatte das Messer am Hals. Aber es bedeutete den Wendepunkt: In diesem Sommer begann ich, mit einem Bekannten in Schweden zu sprechen, der für die Anonymen Alkoholiker arbeitete. Außerdem besuchte ich Treffen von Al-Anon, einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholikern. Von diesem Sommer an habe ich keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Schließlich bekam ich einen langfristigen Vertrag.
SPIEGEL: Sie sagten: Sie nahmen an Treffen für Angehörige von Alkoholikern teil.
Pálsson: Jeder Mensch ist geprägt durch seine Kindheit und mitunter auch den Dramen dieser Zeit. Ich stamme aus einer Familie von Abhängigen. Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinem leiblichen Vater, aber er war Alkoholiker und Drogensüchtiger.
Auf Pálssons Waden sind ein lachender und ein trauriger Smiley tätowiert: »Wenn ich trank, dann meistens bis zum Filmriss« Foto: Dominik Asbach / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Und Ihre Mutter auch.
Pálsson: Ja, darum ist sie gestorben.
SPIEGEL: Nach ihrem Tod im Dezember 2020 schrieben Sie auf Instagram: »Es tut mir leid, dass ich nie verstanden habe, was du durchgemacht hast – nun tue ich es.« Was meinten Sie damit?
Pálsson: Du kannst Sucht nicht begreifen, wenn du sie nicht selbst durchleidest. Ich habe als Jugendlicher meiner Mutter Sätze an den Kopf geworfen wie: »Warum hörst du nicht auf? Warum stellst du den Alkohol über uns? Warum brichst du deine Versprechen?« Aber Sucht ist eine mächtige Krankheit, ich selbst habe vielleicht ein Prozent von dem Leid meiner Mutter durchgemacht. Und ich habe getrunken, obwohl ich ihre Probleme hautnah erlebt hatte – doch zu dieser Zeit kümmerte ich mich nicht um andere. Ich bin stolz, die Krankheit gestoppt zu haben, bevor alles schlimmer wurde. Meine Mutter hatte viele schwere Dramen in ihrer Kindheit durchgemacht – und so ist es bei jedem Abhängigen. Du wirst nicht als Alkoholiker, Obdachloser oder Krimineller geboren. Das Leben kann dich mitunter in diesen Strudel stürzen. Das habe ich erst spät verstanden.
Pálsson beim FC Zürich 2018, hier spielte er zwei Jahre Foto: FABRICE COFFRINI / AFP
SPIEGEL: Wie war die Beziehung zu Ihrer Mutter?
Pálsson: Die abhängige Person war jemand anderes, nicht meine Mutter. Sie war eigentlich eine liebenswerte Frau mit einem guten Herzen, eine fürsorgliche Mama. Wenn sie nüchtern war, waren wir die besten Freunde. Sie hat mich bereits im Alter von 16 Jahren geboren, mein Vater hat uns verlassen. Also waren wir sehr lange auf uns allein gestellt. Während der letzten zehn Jahre hatten wir schwierige Phasen, aber die Liebe füreinander war immer da. Einige Monate vor ihrem Tod schickte sie mir noch einen langen Brief, der mir bis heute viel bedeutet.
SPIEGEL: Sie erfuhren vom Tod Ihrer Mutter, direkt nachdem Sie selbst von einer Finger-Operation aus der Narkose erwacht waren.
Pálsson: Es war das schlimmste Tief meines Lebens, ich fiel in ein großes schwarzes Loch. Es war, wie mit voller Geschwindigkeit gegen eine Wand zu laufen. Ich konnte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, verlor acht Kilo an Gewicht. Der Prozess der Trauer hält bis zum heutigen Tag an, ein trauriger Film oder ein Lied im Radio können mich noch immer umhauen. Das Schlimmste war für mich, dass die Hoffnung verloren war, den Kampf noch zu gewinnen. Denn die Krankheit hatte gesiegt.
SPIEGEL: Wie kamen Sie wieder zu sich?
Pálsson: Zunächst einmal war mein Rettungsanker, dass ich selbst Vater geworden war. Ich muss nun einmal die beste Version von mir sein, um anderen Menschen wie meinem Sohn etwas zu geben. Ich will ihn im besten Sinne auf die Welt vorbereiten, da stehe ich in der Verantwortung. Zweitens spielte ich drei Monate lang keinen Fußball und merkte, wie sehr der Sport mir fehlte. Ich mochte es total, wieder auf dem Platz zu stehen, sich mit anderen zu messen, und einfach den Kopf freizubekommen. Genau diese Punkte hatte mir meine Mutter in ihrem Brief auch mit auf den Weg gegeben: mich weiter im Fußball zu verwirklichen, aber auch als Mensch zu reifen und persönlich das Beste aus mir herauszuholen. Ich versuche, sie auch jetzt stolz zu machen. Mehr zum Thema
SPIEGEL: Ihre Mutter hatte Ihnen bereits im Alter von 16 Jahren geraten, einen Therapeuten aufzusuchen. Sie sprechen offen darüber, an Depressionen zu leiden. Nehmen Sie seit Ihrer Jugend Hilfe wahr?
Pálsson: Früher ging ich mal zur Therapie, dann wieder nicht. Ich musste schnell erwachsen werden und war als Profi sehr früh der Mann in der Familie. Es brauchte eine Zeit, bis ich mich meinen Dämonen stellte. Heute treffe ich mich regelmäßig mit einem Therapeuten und Sportpsychologen, sie haben mir aus meinen Tiefs geholfen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn du offen über deine Probleme redest, sondern eines der Stärke. Was ich gelernt habe: Niemand wird dich retten, außer du selbst. Du bist in der Verantwortung.
SPIEGEL: Eine weit verbreitete Annahme lautet: Fußballer führen ein so privilegiertes Leben, warum sollte es ihnen mental schlecht gehen?!
Pálsson: Es regt mich wirklich auf, wenn die Leute sagen, wir hätten ja ein ach so privilegiertes Leben. Können wir deswegen nicht auch Trauer und Wut empfinden oder an Depressionen leiden? Natürlich gibt es Menschen mit schlimmen Problemen, gerade derzeit in der Ukraine, aber man sollte Leid nicht gegeneinander aufwiegen. Ich arbeite jeden Tag hart für meine Ziele. Doch es gibt eben auch schlechte Tage. Auch Bäcker oder Polizisten machen Fehler, doch wir Fußballer werden von 60.000 Fans im Stadion bewertet. Natürlich sind wir in gewisser Weise privilegiert, aber wir haben unser ganzes Leben dafür gearbeitet. Bei erfolgreichen Anwälten oder Ärzten regt sich auch niemand darüber auf, was sie für ein tolles Auto fahren.
Pálsson: »Seit unserer Jugendzeit müssen wir Sportler ein Roboterleben führen« Foto:
Dominik Asbach / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Hat der Druck im Profigeschäft Einfluss auf Ihre mentale Gesundheit gehabt?
Pálsson: Seit unserer Jugendzeit müssen wir Sportler ein Roboterleben führen, getaktet nach einem festen Programm und Tagesablauf, geformt von Strukturen und permanentem Druck. Entweder du bist scheiße oder großartig. In dieser Saison hat mir ein Fan über die sozialen Medien nach einem Spiel geschrieben, dass ich Schalke verlassen und nie mehr wiederkommen soll. In der folgenden Woche schrieb er, ich sei der beste Sechser der Liga. Was nehmen sich manche Leute eigentlich raus, in welchem Ton sie andere bewerten?! Ich habe nun meinen Instagram-Account gelöscht – und das war die beste Entscheidung der letzten Zeit.
SPIEGEL: Warum?
Pálsson: Ich brauche eine Pause davon, die sozialen Medien sind eine zu große Ablenkung und gleichzeitig Belastung. Es ist eine verrückte Welt. 90 Prozent der Leute unterstützen dich, aber zehn Prozent verlassen sehr weit die Grenzen des guten Geschmacks. In England wurden dieses Schikanieren im Netz und die Folgen schon heftig diskutiert, sehr viele Spieler leiden darunter – nicht nur in England oder Deutschland, sondern überall. Mein Problem ist, dass ich es zu vielen Leuten recht machen und ihnen gefallen will. Auch das rührt aus meiner Kindheit. Nur wenn ich erfolgreich war, meistens im Fußball, bekam ich Anerkennung, ansonsten wurde ich hart bestraft. Also habe ich mich allein über meine Leistungen als Fußballer definiert und nicht über mich als Person. Es mag sich schlimm anhören, aber: Ich habe auch nur Fußball und keine anderen Hobbys. Wenn ich heute ein schlechtes Spiel mache oder wir verlieren, bin ich 48 Stunden lang nicht ansprechbar. Mein Kopf rotiert dann wie eine Waschmaschine. »Mir ist es wichtig, auf das Thema mentale Gesundheit aufmerksam zu machen. Bisher ist es immer noch eine Art Tabu.«
SPIEGEL: Paul Pogba von Manchester United berichtete kürzlich, dass auch er an Depressionen gelitten habe und sich manchmal am liebsten von allen isolieren würde.
Pálsson: England ist in diesem Punkt viel weiter als Deutschland. Dort sprechen viele Profis über mentale Gesundheit. Ich lebe nun dreieinhalb Jahre hier und durfte die deutsche Mentalität kennenlernen: »Komm, komm, das schaffst du, mach!« Du darfst hier keine Schwäche zeigen. Ich habe vom Fall Robert Enke gehört und dass sich hier seither nicht viel geändert habe. Das kann ich aber nicht bewerten, weil ich damals noch nicht hier war. Generell finde ich es gut, dass sich international immer mehr Profis öffnen.
Pálsson: »Mir ist es wichtig, auf das Thema mentale Gesundheit aufmerksam zu machen« Foto: Peter Kotzur / IMAGO / foto2press
SPIEGEL: Wie wird das Thema in der Fußballkabine behandelt?
Pálsson: Wenn mich ein Teamkollege fragt, werde ich ihm sicher einen Rat geben. Ich selbst bin offen für jede Hilfe und habe ungemein von der Therapie profitiert. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Die Klubs sollten den Spielern zumindest die Möglichkeit geben, sich jemandem anzuvertrauen. Doch ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, einen Psychologen in den Betreuerstab aufzunehmen, weil es einen Zwang zum Treffen implizieren könnte. Im Endeffekt müssen die Betroffenen sicher sein, dass alles privat und unter vier Augen bleibt.
SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Erfahrungen vielleicht als Mentalcoach im Profifußball weiterzugeben?
Pálsson: Mir ist es wichtig, auf das Thema mentale Gesundheit aufmerksam zu machen. Bisher ist es immer noch eine Art Tabu. Ich würde liebend gern mit Jugendlichen arbeiten. Ich sehe so viele Talente in Island, die in die große Fußballwelt aufbrechen und nach einigen Jahren desillusioniert zurückkehren. Das liegt aber nicht daran, dass sie zu wenig Talent besitzen, sondern mental nicht bereit waren. Im Fußball macht Talent nur 20 Prozent aus, 80 Prozent aber bestimmt der Kopf. Und ich selbst habe aus sehr vielen Fehlern lernen müssen, vor denen ich andere gern bewahren würde.