„Mein Trainer missbrauchte mich jeden Tag“
Andy Woodward sprach als erster Ex-Profi öffentlich über seine dunkle Kindheit: Er wurde hunderte Mal von seinem Jugendtrainer Barry Bennell missbraucht. Hier gibt er erstmals einem deutschen Medium ein Interview.
Andy Woodward sprach als erster Ex-Profi öffentlich über seine dunkle Kindheit: Er wurde hunderte Mal von seinem Jugendtrainer Barry Bennell missbraucht, der zu 31 Jahren Haft für den Missbrauch in 50 Fällen an zwölf Jungen verurteilt wurde. Hier spricht er erstmals mit einem deutschen Magazin.
Der ehemalige
Zweitliga-Profi Andy Woodward spielte von 1992 bis 2002 unter anderem
für Crewe Alexandra, Bury und Sheffield United. Im November des
vergangenen Jahres berichtete der heute 44-jährige Woodward in
englischen Medien darüber, in seinen Jugendjahren bis Mitte der
neunziger Jahre von seinem Trainer bei Crewe missbraucht worden zu sein.
Daraufhin gingen unzählige ehemalige Fußballer an die Öffentlichkeit,
über 500 Anzeigen gingen bei der Polizei ein. Jüngsten Zahlen zufolge
sind fast 250 Fußballvereine von dem Missbrauchsskandal betroffen.
Der
unabhängige Beauftragte der Bundesregierung bietet ein „Hilfetelefon
Sexueller Missbrauch“ an: 0800-2255530. Weitere Anlaufstellen finden Sie
hier.
Andy Woodward, hätten Sie damit gerechnet, was Ihre Geschichte auslösen würde?
Ich habe während der vergangenen Monate jeden Tag Anrufe und Nachrichten bekommen. Es war überwältigend. Ein Mann, der als Junge ebenfalls missbraucht worden war, rief mich an und erzählte, dass er unmittelbar kurz vor dem Selbstmord gestanden hatte. Dann sah er im Fernsehen ein Interview mit mir, setzte sich und ließ glücklicherweise von seinem Plan ab. Diese Geschichte war für mich unglaublich. Wir stehen bis heute in Kontakt.
Warum sind Sie an die Öffentlichkeit gegangen?
Ich war in den vergangenen Jahren in Therapie. Mein Therapeut riet mir dazu, das Geschehene zu verarbeiten, indem ich es aufschreibe. Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber für mich persönlich zur Aufarbeitung. Genau in dieser Zeit kam ich zufällig in Kontakt mit Daniel Taylor vom „Guardian“ und erzählte ihm meine Geschichte. Doch ich überlegte bestimmt einen Monat lang, ob das Ganze in der Zeitung stehen sollte.
Wie verlief für Sie der Tag, bevor Ihre Geschichte im »Guardian« erschien?
Ich sprach mit meinen Kindern und meiner Lebenspartnerin, um alle darauf vorzubereiten. Ohne ihre Unterstützung hätte ich es nicht durchgestanden. Außerdem telefonierte ich mit Neil Warnock und Stan Ternent, zwei meiner langjährigen Trainer. Ich war aufgelöst durch all die Aufregung, ich weinte. Doch die beiden haben mich bestärkt und gesagt: „Andy, du musst das machen. Du musst dem Ganzen ein Ende setzen.“ Ich wusste tief in mir, dass es der richtige Schritt war. Die Geschichte erschien dann sogar auf der Titelseite. Beim „Guardian“ kamen sie gar nicht nach, all die Telefonanrufe zu beantworten.
Hat sich Ihr ehemaliger Verein Crewe Alexandria bei Ihnen gemeldet?
Crewe hat sich bis heute weder bei mir noch bei anderen Opfern gemeldet. Es geht nicht darum, Schuld einzugestehen, aber um eine Geste des Respekts. Immerhin haben sie eine unabhängige Untersuchung eingeleitet. Wobei das alle Vereine in England nun auf Anordnung des Verbands tun müssen.
Können wir darüber sprechen, was sich genau während Ihrer Zeit als Jugendspieler bei Crewe Alexandra abspielte?
Ja, nur zu. Fragen Sie.
Wann kamen Sie zu diesem Klub?
Mit elf Jahren spielte ich noch bei meinem Lokalverein in Stockport. Aber es war immer mein Traum, Fußballprofi zu werden. Unser Trainer sagte mir vor einem Spiel, dass ein berühmter Scout vorbeischauen würde, nur um mich spielen zu sehen. Der Name dieses Scouts war Barry Bennell. An diesem Tag wuchs ich über mich hinaus, ich machte das Spiel meines Lebens. Bennell sagte danach meinen Eltern, er könnte mir ein Probetraining bei Crewe, dem damaligen Drittligisten, vermitteln. Ich war hin und weg.
„Die Schüsse verfehlten mich nur knapp“
Wie verlief das Probetraining?
Es gibt noch eine
besondere Note jener Tage. Am Abend zuvor klopfte die Polizei an die Tür
und teilte uns die schreckliche Nachricht mit, dass meine Schwester von
einem Auto angefahren worden sei. Ich eilte voller Panik zum
Krankenhaus. Zum Glück hatte sie nur leichtere Verletzungen erlitten,
aber es hätte weitaus schlimmer ausgehen können. Ich setzte mich zu
meiner Schwester und sagte ihr, dass ich am folgenden Tag bei ihr
bleiben wollte. Doch sie überzeugte mich, zum Probetraining zu gehen.
Ohne diese Sätze meiner Schwester hätte ich das Training sausen lassen.
Und hätten damit auch nicht Barry Bennell kennen gelernt.
So
ist es. Es ist komisch, welche Wege das Schicksal wählt, wenn man
zurückblickt. Das Training lief gut, ich durfte bleiben. Ich wurde
Jugendspieler Crewe Alexandra. Nach ungefähr drei Wochen erklärte
Bennell meinen Eltern, dass es gut für mich wäre, wenn ich am Wochenende
in seinem Haus bliebe. Er wollte meine Technik verbessern und mich mit
zu Fußballspielen nehmen, um mir bestimmte Taktiken auf dem Spielfeld
besser zu veranschaulichen. Meine Eltern waren einverstanden, und auch
ich war total begeistert.
Hatten Sie und vor allem Ihre Eltern keine Zweifel an diesem Vorschlag?
Sie
müssen eines beachten: Bennell war damals in seinen Zwanzigern, hatte
aber bereits sieben Jahre bei Man City trainiert. Er konnte unglaubliche
Dinge mit dem Ball anstellen, ich habe diese technischen Fähigkeiten
auch später während meiner Karriere bei keinem anderen Fußballer
gesehen. Er besaß außerdem diese besondere Aura, mit der er andere
manipulieren konnte. Meine Eltern hielten Bennell wie viele andere
Eltern und Experten für den besten Jugendtrainer des Landes und sahen in
seiner Betreuung eine große Chance für mich.
Können Sie sich noch erinnern, wie Sie zum ersten Mal Bennells Haus betraten?
Es
war wie ein großer Abenteuerspielplatz. Er besaß einen riesigen
Fernseher, einen Billardtisch, eine Jukebox, ja sogar einen kleinen Zoo:
Er hielt sich einen Affen, viel später sogar einen kleinen Puma, den er
aufzog. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Es war wie ein Paradies
für Kinder. Dabei war das Haus gar nicht mal so groß, es war ein
Landhaus aus Natursteinen. Dazu nicht sehr aufgeräumt und auch nicht
sauber.
Auch andere Ex-Spieler haben von diesen
Attraktionen in seinem Haus berichtet. Im ersten Moment denkt man da an
Michael Jacksons »Neverland«-Ranch.
Der Gedanke kommt
zwangsläufig. Alles, was Bennell in seinem Haus auffuhr, diente der
Attraktion, er wollte unbedingt die Aufmerksamkeit der Kinder erlangen.
Er ging manchmal mit mir in der Gegend spazieren und schoss mit der
Luftwaffe auf Hunde oder andere Tiere. Damit wollte er mir Angst
einjagen. Er schickte mich vor, um nach dem Tier zu sehen. In dem
Moment, in dem ich mich herunterbeugte, feuerte er los. Die Schüsse
verfehlten mich nur knapp. Das war der Plan. Ich sollte mich manchmal in
der Wohnung an die Wand stellen. Dann schleuderte er Ninjasterne nach
mir.
Wollte er damit seine Macht demonstrieren?
Ja,
er wollte mich einschüchtern. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass
er mich auch als Jugendtrainer kontrollierte und über meinen Weg
entscheiden konnte. Er hatte also schon innerhalb der ersten Wochen eine
immense Macht über mich.
Wann begann er, Sie anzufassen?
Am zweiten Wochenende, in dem ich in seinem Haus blieb.
Er lud Sie also jedes Wochenende ein.
An
diesem zweiten Wochenende waren ich und einer meiner Mitspieler in dem
Haus. Wir schauten zusammen Filme, bis Bennell mit einem Spiel anfing,
das er »Folge mir« nannte. Ich erschrak. Er führte uns ins Schlafzimmer.
Ich schlief von diesem Moment an nur noch mit dem Rücken zur Wand. Das
ist bis heute so, wenn ein Bett an der Wand steht. Der andere Junge
erschien nach einem Monat nicht mehr in dem Haus, ich blieb also allein
mit Bennell. Von da an wurde es immer schlimmer. In den Sommerferien
zitierte er mich täglich zu sich. Ich lebte buchstäblich mit ihm
zusammen. Und er missbrauchte mich jeden Tag.
Hielten sich in diesen Wochen nie andere Personen in seinem Haus auf?
Er
hatte sogar eine Freundin, die sich aber nicht groß an mir störte. Ich
konnte sie im Schlafzimmer hören. Danach kam er zu mir ins andere
Zimmer.
Nachdem er mit seiner Freundin geschlafen hatte?
Ja.
Das zeigt, wie erbarmungslos er war. Kurze Zeit später freundete er
sich mit meiner Schwester an. Die beiden fingen wenig später eine
Beziehung an. Ich habe von anderen Opfern gehört, dass er auch deren
Schwestern umworben hatte – und auch mit einigen von ihnen zusammen kam.
Auch das war Teil seines Plans?
Das
stimmt. Er wollte nach außen hin die Fassade wahren, indem er eine
Beziehung zu einer Frau aufbaute. Zum anderen wollte er Druck auf uns
Opfer ausüben. Er machte das auch physisch klar, indem er mich schlug.
Ich erinnere mich auch an Ausflüge mit der Mannschaft, in denen er in
den anderen Räumen verschwand. Ich ahnte damals, dass er auch andere
Kinder missbrauchte. Eines Abends fanden wir kleine Aufnahmegeräte in
unseren Schlafsäcken, die komische Geräusche abspielten, von Tieren, vom
Wind und Türen. Sie sollten uns Angst einjagen. Bennell zeigte uns
zudem Horrorfilme, damit wir total verängstigt in sein Bett flüchteten.
Haben Sie und Ihre Mitspieler darüber gesprochen?
Nie,
das Thema kam nicht einmal zur Sprache. Es mag für Außenstehende
schwierig zu verstehen sein, aber wir trauten uns nicht, untereinander
oder mit anderen darüber zu sprechen. Einen meiner Mitspieler von damals
sah ich erst 1998 wieder, als wir beide vor Gericht gegen Bennell
aussagten.
„Ich habe mit meinem Peiniger zusammen gewohnt“
Einer seiner ehemaligen Spieler berichtete, dass er sich gegen
Bennells Übergriffe zur Wehr setzte. Dieser bezeichnete ihn daraufhin
vor den anderen Jungen als »Dieb«, um ihn zu diskreditieren.
Ja,
das kam häufiger vor, wenn sich jemand gegen Bennell stellte. Er konnte
cholerisch werden. Einmal setzte er uns während eines Trainingslagers
am Strand von Blackpool ab, zwang uns zu einer intensiven Laufeinheit.
Dann sagte er, wir hätten 15 Minuten, um zu seinem Van zu laufen. Als
wir ankamen, fuhr er weg. Wir waren zwölf Kilometer von unserer
Unterkunft entfernt. Es dauerte vier Stunden, um dort anzukommen. Doch
niemand von uns erzählte es unseren Eltern.
Haben Sie jemals versucht, sich ihm zu widersetzen?
Einmal.
Danach strich er mich aus der Mannschaft und ignorierte mich für einige
Tage. Danach fing er wieder damit an, mich zu schlagen.
Haben Ihre Eltern oder Lehrer die Verletzungen gesehen?
Er
schlug mich nur auf die Arme oder den Oberkörper. Ich hab es nie
jemandem gezeigt. Aber als ich zwölf Jahre alt war, hörten meine Eltern
von Gerüchten über Bennell bei dessen vorheriger Station Manchester City
und befragten mich dazu. Ich entgegnete, dass alles in Ordnung sei. Ich
brachte es nicht über die Lippen, dabei weinte ich mich durch die
Nächte. Verstehen Sie, ich habe mit ihm zusammen gewohnt, ich hatte
keine normale Kindheit.
Hatten Sie Freunde, mit denen Sie sich austauschen konnten?
Nein.
Ich hing nie mit Schulfreunden ab, weil mir mein Leben entrissen wurde.
Ich habe mir immer eingeredet: »Ich muss das machen, um Fußballprofi zu
werden. Ich muss da jetzt durch.« Ich sah auch, dass andere Spieler
plötzlich aus dem Team gestrichen wurden, die hervorragende Fußballer
waren. Möglich, dass das passierte, weil sie sich ihm widersetzt hatten.
Wie weit war Bennels Haus von Ihrem Elternhaus entfernt?
Ungefähr
40 Minuten Fahrt, bei der mir die Tränen schon in den Augen standen.
Ich wusste, was kommen würde. Die Angst breitete sich schon Tage vorher
in mir aus.
Ergab sich jemals für Sie die Möglichkeit zu fliehen?
Nein,
ich war zwar nicht gefesselt, fühlte mich aber wie eingesperrt, und
dieses Wort trifft es. Er hatte Macht über meine Schwester und über
mich. Ich hatte zu viel Angst vor ihm, auch wenn ich mich dreckig
fühlte. Da gab es keinen Weg heraus. Selbst als ich mit 16 Jahren in den
Bereich wechselte, in dem Spieler für den Profibereich ausgewählt
werden, war er wieder mein Trainer. Die anderen Jungs zogen mich damit
auf, dass mein Lieblingstrainer weiterhin bei mir bleiben würde. Doch
ich hatte eben keine Wahl.
Wie lange lebten Sie bei ihm?
Er
verlor das Interesse an mir, als ich 14 Jahre alt war. Das war sein
Muster, er fing dann an, nach Jüngeren zu suchen. Doch dadurch, dass er
mit meiner Schwester zusammen blieb, gingen die Misshandlungen weiter.
Ich lebte zwar nicht mehr bei ihm, war aber immer noch nicht sicher, bis
ich etwa 17 Jahre alt war. 1990 verließ er Crewe Alexandra, 1995 ich.
Aber er war nun einmal mit meiner Schwester zusammen und kontaktierte
mich immer wieder, das ging so bis zum Jahr 1994. Dann veranstaltete er
Fußballcamps in den USA. Wenig später wurde er dort wegen
Kindesmissbrauchs ins Gefängnis gesperrt.
Wurden Sie vergewaltigt, während er mit Ihrer Schwester zusammen war?
Ja.
Er tat es sogar im Haus meiner Eltern. Sie leben immer noch in diesem
Haus. Es ist für mich bis heute schwierig, dorthin zu gehen. Ich stand
mittlerweile auch wieder vor Bennells früherem Haus, aber ich glaube
nicht, dass ich diese »Flashbacks«, all die fürchterlichen Erinnerungen,
ein zweites Mal ertragen kann.
„Jeder im Klub wusste davon“
Es gab in Bennells Anfangsjahren Anfang der Achtziger Beschwerdebriefe von Eltern an den Verein Manchester City. Der britische Sender Channel 4 berichtete 1997 darüber. Warum wurde nichts unternommen?
Es
sagt viel über den Mann und seine Verhaltensweise aus, dass er trotz
der Beschwerden weitermachte. Es wird aber auch deutlich, dass die
Vereine ihn machen ließen, ja, ihn für unantastbar hielten. Er wechselte
dann einfach den Verein von Manchester City zu Crewe Alexandra ohne
jeden Widerstand. Das verstört mich auch. Wenn die Klubs damals etwas
unternommen hätten, das hätte mich und viele andere gerettet.
Man
stößt in den Berichten immer wieder auf diesen Namen: Dario Gradi. Er
kannte Bennell von seiner vorherigen Station und war dann der Sportliche
Leiter bei Crewe Alexandra, wo er ihn gegen alle Proteste der Eltern
und der Presse verteidigte.
Die Untersuchungen laufen noch.
Aber was ich sagen kann, ist: Gradi hat auch Jungen zu sich nach Hause
eingeladen. Bennell und er gingen nach dem selben Muster vor. Ich habe
gehört, wie die beiden sich über mich gestritten haben. Es ging darum,
bei wem ich schlafen sollte. Allein schon die Einladungen an junge
Spieler, bei ihnen übers Wochenende zu bleiben, waren unangemessen. Ich
kann Gradi keine Misshandlungen vorwerfen, aber er wusste von den
Vorwürfen, so viel ist sicher.
Warum?
Weil es
jeder im Klub wusste. Eines Tages schnappten mich die älteren Spieler,
schubsten mich über die Bank und simulierten eine Vergewaltigung. Sie
schrien: »Oh, Barry macht das gerne mit dir.« Es gab nicht nur Gerede
über mich, sondern auch über andere Spieler.
Haben Sie jemals bei Gradi übernachtet?
Ja, er hat mich jedoch nie sexuell belästigt.
Bob
Higgins, ein anderer mutmaßlich pädosexueller Trainer, soll Gradi und
Bennell durch ihre gemeinsame Zeit bei Chelsea gekannt haben. Gibt es da
eine Verbindung?
Das kann ich nicht sagen, aber die drei
kannten sich offenbar sehr gut. Man kann sich nicht vorstellen, dass sie
nichts davon wussten, was der jeweils andere tat. Es gibt Berichte,
wonach Gradi bei Chelsea Eltern Geld oder andere Geschenke anbot, damit
sie ihre Vorwürfe gegen Higgins zurückzogen.
Wissen Sie von derlei »Angeboten« bei Crewe?
Nein. Ich vertraue da auf die unabhängigen Untersuchungen.
Bennell
war Ihr Trainer. Wie schafften Sie es, unter diesen Umständen weiter
Fußball zu spielen? Sie schafften es bis in die Zweite Liga.
Natürlich
hatten die Verletzungen und die Vergewaltigungen einen Einfluss auf
mich, wenn ich auf dem Platz stand. Jeder Tag war ein Kampf. Aber tief
in mir war auch der Gedanke: Er wird nicht gewinnen, indem ich mit dem
Fußball aufhöre. Ich wollte es schaffen.
Ihre Schwester heiratete Bennell. Wann erfuhr sie davon, was er Ihnen angetan hatte?
Sie
erfuhr zwar 1994 von seiner Verhaftung in den USA, wollte aber nichts
von den Anschuldigungen glauben. Doch selbst zu diesem Zeitpunkt traute
ich mich nicht, mich ihr zu offenbaren. Ich glaube nicht, dass
irgendjemand verstehen kann, welche Macht diese Leute über einen
gewinnen. Zu Ihrer Frage: Meine Schwester ließ sich 1998 von ihm
scheiden.
Saß Bennell da noch in den USA im Gefängnis?
Nein,
er kam nach vier Jahren zurück nach England, wo er ebenfalls angeklagt
wurde. Während seiner Haftzeit in den USA lief parallel die Untersuchung
in Großbritannien. Als er schließlich in Manchester landete, wurde er
noch am Flughafen verhaftet. Ich war damals 25 Jahre alt und spielte bei
Bury. Die Polizei klopfte immer wieder an meine Tür, weil sie Hinweise
darauf hatte, dass ich eines seiner Opfer gewesen war. Sie wussten, dass
ich bei ihm gelebt hatte. Die Polizei hat mich nicht unter Druck
gesetzt, aber sie hat immer wieder nachgefragt, ob ich aussagen möchte.
Nach langem Zögern willigte ich ein.
Was hat Sie letztendlich dazu bewogen?
Zu
diesem Zeitpunkt war der Sohn meiner Schwester acht Jahre alt. Ich
hatte Angst, dass ihm Ähnliches passieren könnte. Ich dachte auch an all
die anderen Jungs, von denen ich wusste, dass sie auch missbraucht
wurden. Neben mir sagten fünf weitere Opfer aus, wir blieben aber
anonym. Der Prozess interessierte die Öffentlichkeit nicht, nur in der
Lokalzeitung stand eine Agenturmeldung. Bennell wurde zu neun Jahren
Gefängnis verurteilt. Damals war ich noch Profifußballer und fühlte mich
durch die Verurteilung wie befreit, auf und neben dem Platz.
Sie sprechen von dem Sohn Ihrer Schwester. War Bennell der Vater?
Ja. Mein Neffe erreichte ein Alter, vor dem ich so große Angst hatte. Ich verspürte den Druck, ihn retten zu müssen.
Wann konnten Sie erstmals außerhalb des Gerichts über Ihre schrecklichen Erfahrungen sprechen?
Das begann vor ungefähr vier Jahren. Der Selbstmord von Gary Speed (langjähriger Premier League-Profi und walisischer Nationalspieler, die Red.)
hat mich sehr berührt, auch wenn ich nicht allzu viel über ihn reden
möchte. Doch ich begann danach mit einer Therapie, in der ich erstmals
lernte, über meine Kindheit zu sprechen.
Bennell bestritt
in einem Zeitungsinterview, Speed missbraucht zu haben. Dann fügte er
an: »Selbst wenn, dann würde ich es nicht zugeben.« Speed und Alan
Davies galten als Bennells »Lieblinge« – beide haben sich das Leben
genommen.
Ich bin nicht in der Lage zu kommentieren, warum
sie Suizid begangen haben. Aber ich weiß, dass Bennell Beziehungen
jeweils mit den Schwestern der beiden hatte. Als ich von diesen Details
erfuhr, hat mich das sehr mitgenommen. Es gab in Speeds Fall sehr viele
Ähnlichkeiten zu meinem. Erst nach Speeds tragischem Tod schaffte ich
es, mit meiner Schwester zu sprechen.
Sie selbst sollen auch Selbstmordversuche unternommen haben.
Ich
stand sehr oft kurz davor, mich umzubringen. Ich saß im Auto, kurz vor
einer Vergiftung durch Kohlenstoffmonoxid. Das Einzige, was mich von dem
letzten, ultimativen Schritt abgehalten hat, war ein Bild. Das Bild von
meinem Sohn, das ich vor meinem geistigen Auge sah. Ich erinnerte mich
an ihn und mir wurde klar, dass er auf keinen Fall leiden sollte.
Wann sind Sie Bennell zum letzten Mal begegnet?
2004
einmal und zuletzt 2016 im Gerichtssaal, allerdings nicht physisch. Er
wurde aus dem Krankenhaus per Video zugeschaltet. Ein Freund von mir
klagte ihn an. Ich sah Bennell auf dem Bildschirm, sah seine Augen,
seine Reaktion. Es war ihm klar anzumerken, dass er rein gar nichts
bereute. Das war wirklich hart. Keine Regung.
„Es ist ein globales Problem“
Tragen Sie Rachegefühle in sich?
Bis
zum heutigen Tage habe ich mir meine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit
bewahrt. Ich will nur Gerechtigkeit. Ihm muss eine angemessene Strafe
widerfahren. Er darf nicht mehr aus dem Gefängnis rauskommen. Für das,
was er mir angetan hat, bekam er neun Jahre Knast. Aber das ist immer
noch eine absurd lächerliche Strafe. Er kam 2007 frei, wurde 2014 wieder
angeklagt und war ein Jahr später auf freien Fuß. Er soll laut
Berichten danach wieder kleine Jungs zu sich eingeladen haben.
Sie
wurden Fußballprofi, sind Familienvater. Manche Opfer sexuellen
Missbrauchs sehen sich als »Überlebende«. Würden Sie diesen Begriff auch
benutzen?
Ich bin ein Kämpfer und kann tatsächlich sagen,
dass ich überlebt habe. Diese Kindheitserfahrungen haben mich auch
innerlich zerstört. Ich war drei Mal verheiratet, ich habe fünf Kinder.
Da war immer die Angst in mir, nicht der richtige Vater für meine Kinder
zu sein. Ich litt unter psychischen Krankheiten, hatte Panikattacken.
Diese Täter zerstören nicht nur das Leben ihrer Opfer, sondern in meinem
Fall auch in gewissem Maße jenes der Eltern, der Kinder, der Exfrauen.
Ja, ich habe überlebt. Jetzt geht es um die zweite Halbzeit meines
Lebens.
Wie sind Sie damit umgegangen, wenn Ihre Kinder zu einem Feriencamp eingeladen wurden?
Ich
war immer sehr beschützend, letztendlich wurde ich Jugendtrainer meines
Sohnes, weil ich wahrscheinlich den totalen Schutz für ihn wollte.
Meine Zwillinge interessieren sich nicht sonderlich für Sport, mein
elfjähriger Sohn Izaak spielt Rugby. Ich sehe aber, dass andere Eltern
mit ihren Sorgen zu mir kommen. Ich glaube, ich kann einschätzen, wenn
die „Alarmglocken“ läuten sollten. Es gibt nun ein gewisses
Problembewusstsein innerhalb der Gesellschaft. Das war früher einfach
nicht gegeben.
Jon Brown von der britischen
Hilfsorganisation NSPCC sagt: »Es wäre naiv zu glauben, dass sich alle
Vorfälle nur in der Vergangenheit abgespielt hätten.«
Es gab
jüngst einen Bericht über einen Jungen im Alter von vier Jahren, der in
seinem Fußballverein sexuell missbraucht wurde. Gerade der Fußball oder
vielmehr der Sport sind anfällig für diese Verbrechen. Die jetzt
bekannten Fälle ereigneten sich zwar in der Vergangenheit, aber das
heißt nicht, dass es diese Übergriffe heute nicht mehr gibt.
Würde es helfen, wenn Jugendtrainer ein polizeiliches Führungszeugnis vorzeigen müssten?
Sicher.
Die Klubs brauchen klare Regeln, nach denen sie handeln. Im Moment gibt
es dort noch viele Lücken, durch die die Täter schlüpfen könnten. Hier
in England existiert keine juristische Verpflichtung, Vorfälle und
Verdachtsmomente sofort zu melden, wenn man von ihnen erfährt. Das ist
in vielen anderen Ländern, ich glaube auch Deutschland, anders.
Was planen Sie in der Zukunft?
Wir
wollen uns mit den Regierungen treffen, um mit ihnen zusammen ein
gemeinsames Projekt zu entwickeln. Kinder und Jugendliche müssen
einfache Möglichkeiten haben, um sich zu melden und Hilfe suchen zu
können – am besten über eine zentrale Hotline. Außerdem müssen Vereine
und Erwachsene über das Problem aufgeklärt werden. Sie müssen wissen,
wie sie reagieren können. Es geht nicht nur um England, das ist ein
globales Thema. Wir brauchen ein Bewusstsein für die Probleme. Ich werde
mich dafür einsetzen und alles geben. Ich kämpfe nicht nur für mich,
sondern für die vielen unschuldigen Opfer. Geschwiegen wurde lange
genug.
Eine gekürzte Version dieses Interviews erschien in unserer Ausgabe #185. Hier
finden Sie ein Video, in dem nicht nur Andy Woodward, sondern auch
andere Ex-Profis über den sexuellen Missbrauch im englischen Fußball
sprechen. Woodward engagiert sich in der Organisation »Enough Abuse Uk«.
Der
unabhängige Beauftragte der Bundesregierung bietet ein „Hilfetelefon
Sexueller Missbrauch“ an: 0800-2255530. Weitere Anlaufstellen finden Sie
unter www.11freunde.de/hilfe