Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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Interview

„Sie haben doch überhaupt keine Ahnung!“

Rüdiger Abramczik lag mit Trainern und Präsidenten im Clinch, spielte mit Bademeistern und feierte Wodkapartys in Lettland. Hier spricht "der Flankengott" über seine Karriere.

Rüdiger Abramczik, stimmt es eigentlich, dass Fans früher nachts bei Ihnen zu Hause angerufen haben? 
Ja, das kam schon mal vor. Nur gut, dass es damals noch keine Handys gab. Der „Stern“ veröffentlichte 1977 eine Art Starporträt über Sie. Darin heißt es: „Einmal erwischte ihn ein Mädel am Telefon und fragte: ,Bisse verheiratet? Hasse ’ne Alte?'“ (Lacht.) Ich erinnere mich, wie ein Mädel bei meiner Mutter klingelte und sagte: „Hallo, ich wollt nur sagen, dass ich ein Kind von Rüdiger bekomme.“ Meine Mutter war total durcheinander, sagte: „Mensch, Rüdiger, das war auch noch so ’ne Hässliche.“

Außerdem sollen Sie einem alten Bolzplatzkumpel durch die Führerscheinprüfung geholfen haben.
Das stimmt sogar. Ich kannte in Gelsenkirchen den Mann, der die Prüfer einteilte. Also sagte ich: „Sieh mal zu, dass da nicht einer den Jungen fünfmal rückwärts einparken lässt. Das kann der nicht.“ Was soll ich sagen: Mein Kumpel hat die Prüfung bestanden.

Der Bericht trägt den Titel „Der Flankengott aus dem Kohlenpott“. Wie wurden Sie zum Rechtsaußen? 
Mein Vater war ein großer Bewunderer von Stan Libuda. Wenn er zurück von den Spielen in der Glückaufkampfbahn kam, hat er mir die Tricks vom Stan gezeigt. In der Jugend beim Erler SV rückte ich dann auf eben diese Position. Natürlich habe ich mir etwas von Stan abgeschaut, doch kopieren konnte ich ihn nicht, er war schließlich viel kleiner und stämmiger als ich.

Hat Ihr Vater Sie also besonders gefördert, damit Sie Libudas Nachfolger werden?
Mein Vater war Schlosser auf Zeche, wollte das aber bei seinen Kindern verhindern. Meine Brüder wurden Heizungsmonteur, Architekt oder arbeiteten im kaufmännischen Bereich. Die Arbeit für die Bergleute war sehr gefährlich, von daher war ich auch nicht so heiß darauf, da runter zu fahren. Meine Eltern waren zwar bei jedem Jugendspiel dabei, doch „besonders gefördert“ kann man auch nicht sagen: Mein Vater war sehr kritisch.

Inwiefern? 
Es kam schon mal vor, dass er mich nach schlechten Spielen hat stehen lassen. Da musste ich nach Hause laufen oder mir 50 Pfennig für die Straßenbahn leihen. Als ich nach Hause kam, saß er am Küchentisch und sagte: „So ein Scheißdreck, hör‘ lieber auf mit Fußball. Was du da gespielt hast, war ja eine Katastrophe.“ Er hat einfach nicht eingesehen, dass ich in der Jugend einen Jahrgang übersprungen hatte und es deswegen sehr schwer für mich war.

Mit 16 Jahren trainierten Sie schon bei Schalkes Profis mit. 
Mein erstes Training werde ich nie vergessen. Trainer Ivica Horvath schickte mich zum Platzwart Ernst Kalwitzki, damit er mir alles zeigt. Als ich so durch die Räume ging, sah ich all die Trikots, Handtücher, Trainingsanzüge und Spinde der Spieler. Ich dachte: „Sauber, da kriegst du jetzt schön deinen eigenen Spind.“ Doch Kalwitzki führte mich in eine Abstellkammer mit den alten Seilchen, Medizinbällen und Leibchen, wo es bestialisch gestunken hat. Dann kloppte er einen Nagel neben die Leisten und sagte: „So, hier ziehst du dich um.“

Wie sind die Mitspieler mit Ihnen umgegangen? 
Kalwitzki gab mir immer viel zu große Klamotten, ich sah aus wie ein Osterhase. Trotzdem haben sie mich sehr gut aufgenommen, auch weil ich keine Eingewöhnungsprobleme hatte. Ich habe direkt mein Debüt bei der Eröffnungsfeier des Parkstadions gegen Feyenoord gegeben und den Holländer in der ersten Halbzeit schön eingedreht. Plötzlich stand unser Präsident Oskar Siebert in der Kabine und rief: „Der Junge muss ausgewechselt werden, der hat gar keinen Vertrag, die holen uns den weg.“

Also wurden Sie gleich in Ihrem ersten Spiel zur Halbzeit ausgewechselt? 
Ja, die Fans haben die Welt nicht mehr verstanden. Ich war sauer. Erst spielst du vor 70 000 Zuschauern und dann fährst du auf dem Fahrrad nach Hause. Die anderen Spieler besaßen dicke Autos, doch ich hatte keine Kohle. Mein Vater saß wieder am Küchentisch: „Hast du wirklich so schlecht gespielt? Mir ist das gar nicht aufgefallen.“ Ich erklärte alles und am nächsten Tag hat er mit dem Siebert dann meinen ersten Vertrag ausbaldowert.

Spätestens da muss Ihr Vater doch stolz auf Sie gewesen sein. 
Er war weiterhin nicht überzeugt und sagte: „Ich kritisier‘ dich so lange, bis du Nationalspieler bist.“ Vier Jahre später, nach meinem ersten Länderspiel, fuhr ich zu meinem Elternhaus und meinte zu ihm: „Na, wat is?“ Er schwieg und äußerte sich von da an nie mehr zu meinen Spielen.

Das klingt fast wie der Satz Ihres späteren Trainers Max Merkel: „Ehe der Abramczik Nationalspieler wird, werde ich Sänger in der Metropolitan Oper.“ 
Und? Hat er hinterher gesungen? Nein, Merkel hatte Muffe und nie etwas eingehalten, was er gesagt hat. Wir haben ihn als Trainer auch nie ernst genommen und wären unter ihm fast abgestiegen. Der Spruch hat mir natürlich geschadet, weil der Druck automatisch wuchs. Aber im Endeffekt war mir der Kerl doch scheißegal.

„Hätte ich mal meine Fresse gehalten“

Die Kremers-Zwillinge haben bei uns im Interview erzählt, dass Merkel die Spieler beschuldigte, seine Autoreifen geklaut zu haben.
Ich war das jedenfalls nicht. (Lacht.) Später baute sich mein Mitspieler Bernd Thiele in der Kabine auf und posaunte aus Scherz: »Jungs, ich habe neue Reifen und Felgen, günstig abzugeben, 800 Mark.« Doch hinter ihm stand Merkel und fauchte ihn an: »Was erzählst du hier, du Arschloch?«

Klingt nicht nach Harmonie.
Das Beste war aber die Story im Trainingslager in Warendorf. Franz Krauthausen kam als Neuzugang vom FC Bayern und etwas später aus dem Urlaub zurück, direkt ins Trainingslager. Er war noch braungebrannt, trug eine kurze weiße Hose und ein weißes Hemd. Er sah aus wie ein Bademeister. Merkel ist zu ihm hin und fragte gespielt: »Und wer sind Sie?« – »Franz Krauthausen, ich komme vom FC Bayern.« Merkel sagte: »Ah ja, habe ich schon mal gehört.« Der wollte ihn direkt am ersten Tag verarschen und schickte ihn zusammen mit Stan zum Dauerlauf. Da hieß es dann: »Hombre hat einen an der Murmel.«

Wieso »Hombre«?
Stan hat Merkel immer abfällig »Hombre« genannt, weil der ja mal in Spanien gearbeitet hatte. Stan und Krauthausen haben das Handtuch geschmissen und sind vom Trainingslager abgehauen. Wir haben ihnen nur hinterhergeguckt, als sie mit dem Mercedes vom Parkplatz fuhren. Sie schmissen die Kippen in hohem Bogen aus dem Fenster und riefen uns nur zu: »Tschüü-hüüs!«

Libuda war zuerst Ihr Vorbild. Wie war es, mit ihm dann zusammenzuspielen?
Er hat mich als Konkurrent gesehen und mir gleich mitgeteilt, dass ich nie so gut werde wie er. Stan war ein unglaublicher Fußballer, doch er war innerhalb der Mannschaft sehr verschlossen. Wenn wir nach dem Spiel noch einen Sekt tranken, ist er sofort verschwunden.

In Ihrer Zeit auf Schalke wurden Sie zum Nationalspieler. Ihr Zusammenspiel mit Klaus Fischer war legendär.
Ich habe als junger Spieler sehr viele Extraschichten mit Friedel Rausch geschoben. Den Klaus habe ich immer gut getroffen, er war nicht groß, hatte aber einen sehr guten Bewegungsablauf.

Sie legten Fischer das Tor des Vierteljahrhunderts auf, ein Fallrückzieher im Länderspiel gegen die Schweiz 1977.
Die Hereingabe ist mir aber total verrutscht, sie war viel zu hoch. Schließlich hatte ich fünf Mann gegen mich, ich war in Bedrängnis. Und eigentlich hätte Klaus auf den ersten Pfosten laufen müssen. Alles lief falsch, da sieht man mal, wie viel Zufall im Fußball steckt.

In Ihrer Nationalmannschaftskarriere erlebten Sie die Schmach von Cordoba bei der WM 1978. Welche Erinnerungen haben Sie an dieses Spiel?
Da hat der eine oder andere auf der falschen Position gespielt: Manni Kaltz lief zum ersten Mal in seinem Leben als Libero auf, Berti Vogts wuselte plötzlich vorne rum. Der Trainer Helmut Schön hat uns zu sehr nach vorne gepeitscht. Wir hätten einfach viel cleverer spielen müssen. Als ich Jahrzehnte später Trainer in Österreich war, haben mich immer noch fast täglich Leute auf dieses besondere Spiel angesprochen. Die waren wie verrückt danach.

Das Turnier fand im Zeichen der argentinischen Militärdiktatur statt. Wie erlebten Sie die Situation?
Wir mussten als Spieler immer eine Plakette tragen, ohne die wir wohl verhaftet worden wären. Ein einziges Mal sind wir rausgefahren. Wir saßen mit der GSG 9 im Bus, über uns kreiste ein Hubschrauber, vor und hinter uns fuhr ein Militärauto.

Die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann wurde vom Regime gefoltert und ermordet. Ihr Mitspieler Karl-Heinz Rummenigge sagte in der Dokumentation »Das Mädchen«: »Wenn die Nationalmannschaft mit dem DFB und der Politik Druck gemacht hätte, hätten man dieses Mädchen befreien können.«
Der DFB wusste sicherlich mehr als wir und hätte das eine oder andere bewegen können. Doch woher hätten wir das wissen sollen? Wir waren einkaserniert. Wir kamen von unserem Gelände so gut wie nicht weg. Günter Netzer wollte uns einmal besuchen und hatte echte Probleme, überhaupt durchzukommen. Ganz ehrlich: Wir haben von der Außenwelt nicht viel mitbekommen.

Insgesamt liefen Sie nur 19 Mal für die Nationalmannschaft auf. Haben Sie sich durch Ihre direkte Art mehr Einsätze verbaut?
Vielleicht. Nach einem Spiel in Malta kam mein »spezieller Freund« Hermann Neuberger, der damalige DFB-Präsident, zu mir. Er sagte, ich hätte schlecht gespielt. Ich meinte nur: »Sie haben doch überhaupt keine Ahnung.« Neuberger war total eingeschnappt und ist erst zum Bundestrainer Helmut Schön, dann zum Ältestenrat gelaufen. Ich wurde abgesägt und bestritt in der Folge nur noch zwei Länderspiele. Klar, wenn ich meine Fresse gehalten hätte, wäre ich locker auf 50 Länderspiele gekommen.

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„Komm, wir drehen mal einen“

Für Schlagzeilen sorgte auch Ihr Wechsel von Schalke zum BVB.
Wir hatten wirklich eine starke Truppe, aber Schalke wieder mal kein Geld. Also mussten Präsident Siebert und der Manager mich verkaufen. Sie verbreiteten, dass ich zu hohe Gehaltsforderungen hätte. Das war gelogen. Ich war dann schnell einig mit Dortmund. Doch kurz darauf wollte mich Uli Hoeneß zu den Bayern holen. Da hatte ich schlaflose Nächte, stand aber nun mal bei Dr. Reinhard Rauball vom BVB im Wort. Ich weiß nicht, ob ich das heute noch mal so machen würde.

Wie haben die Schalker Fans auf Ihren Wechsel reagiert?
Auf dem Weg von der Umkleidekabine zum Parkplatz übergossen sie mich mit Bier, zerkratzten mein Auto, riefen: »Du Schwein, du Judas.« Das tat mir als Gelsenkirchener Junge unglaublich weh.

Als Spieler kamen Sie viel herum, genauso später als Trainer. Sie arbeiteten in Bulgarien, der Türkei, in Österreich, Lettland. Was war Ihre eindringlichste Erfahrung?
Ich erinnere mich noch an meinen Anfang bei Lewski Sofia. Da standen 35 Spieler auf dem Trainingsplatz. Der Verein hat immer neue ausländische Spieler geholt, obwohl gar kein Bedarf bestand. Beispielsweise waren sie total heiß auf einen Brasilianer. Er kam ohne Schuhe und nach zehn Minuten wusste ich, dass er nichts konnte. Der Manager wollte fünf Millionen Dollar für ihn bezahlen. Ich fragte: »Für den Blinden? Seid ihr bescheuert?«

Haben Sie eine Erklärung für diese Transfers?
Der Manager hatte einen guten Draht zu einem Spielervermittler und hat sehr viele von dessen Klienten verpflichtet. Den Rest kann man sich denken. Ich sollte all diese Transfers dann abnicken. Doch das habe ich nicht mitgemacht! Ich habe mich widersetzt. Daraufhin wurde ich entlassen – als Tabellenführer.

In Lettland wurden Sie mit Liepajas Metalurgs Meister. Wie war die Feier?
Die Letten haben Wodka getrunken, bis alle blau waren. Das dauert da nur etwas länger, weil die das Zeug trinken wie Wasser. Einer meiner Spieler brach sich im letzten Spiel das Schienbein und musste im Krankenhaus warten, bis ein Arzt aus Riga anreiste. Die Truppe hat ihn besucht und einfach dort gefeiert. Da lag er mit seinem kaputten Bein in seiner Höhle und hat sich schön einen getrunken. Was für ein Bild!

Wie blicken Sie sportlich auf Ihre Stationen zurück?
Wir hatten mit Metalurgs Pech in der Champions-League-Quali, sind knapp gescheitert. In Kärnten habe ich es später in den Europapokal geschafft. Doch wie so oft bei meinen Stationen kam wieder ein Wahnsinniger im Verein, der mir reinreden wollte.

Wollen Sie weiter als Trainer arbeiten?
Natürlich, dafür habe ich doch den Schein gemacht. Wenn man sich anschaut, was für geile Traditionsvereine allein in der Regionalliga unterwegs sind, da kann man schon schwärmen.

Es kursierten zuletzt Meldungen, Sie würden nun in einer Schönheitsklinik arbeiten.
Ach, da habe ich einem Kumpel nur einen Gefallen getan. Das Ganze war ein Gag, eine Art Werbung für ihn. Er wollte in die Zeitung und ich sagte: »Komm, wir drehen mal einen.« Aber ich bin doch kein Schönheitschirurg.(Lacht.) Glauben Sie mir, sonst hätte ich doch schon bei mir selbst genug gemacht, angefangen bei den Falten.