Imma Terz!
Dortmund im Jahr der Extreme 2017: Anschlag überlebt, Pokal gewonnen, Trainer entlassen. Was hat das mit dem Verein gemacht? Die Antwort gibt es wie immer in den Trinkhallen der Stadt
Am Tag, als beim BVB die neue Saison beginnt, steht ein alter Herr mit über der Cordjacke baumelndem Brillenband im Dortmunder Bahnhofsladen. Er liest die Lokalzeitung im Stehen und brummt dabei einfach so in den Laden: „Jetz ham wa’n Holländer als Trainer, wa?!“ Da kein Gesprächspartner auszumachen ist, verwittert der Satz unbeantwortet im Raum. Dann erbarmt sich der Verkäufer von der Ladentheke und fragt: „Fußball?“
Der Rentner entgegnet: »Ja, sicher.«
Verkäufer: »Ich interessiere mich nicht für Fußball.«
»Wie? Wat machs du denn?«
»Kampfkunst.«
»Kampfkunst? Heilige Scheiße.«
Der
Rentner legt die Zeitung wieder in den Ständer und schlappt murmelnd
hinaus in den Dortmunder Sommer. Sein Tag ist noch nicht zu Ende. Ganz
egal wer zuhört, es gibt viel zu bereden. Der BVB hat die dramatischste
Spielzeit der jüngeren Vereinsgeschichte hinter sich gebracht.
Nach
Schmähungen gegen Leipzig im Februar wurde die Südtribüne für ein Spiel
gesperrt. Im April überlebten Spieler, Trainer und Betreuer nur knapp
einen Mordanschlag. Dann stritt sich die Führungsriege mit dem Trainer
Thomas Tuchel so heftig, dass nicht mal mehr Heiner Geißler hätte
vermitteln können. Der BVB holte dennoch erstmals seit fünf Jahren
wieder einen Titel. Und der Trainer flog raus. Das sind eigentlich zu
viele Ereignisse für eine einzelne Saison. Für Außenstehende wirft
dieses Dortmunder Jahr Unmengen an Fragen auf. Doch zum Glück gibt es
Orte in dieser Stadt, wo man auf engstem Raum eine Pulle Kronen Export
bekommt, ein Bum-Bum-Eis, eine Tüte Lakritz und dazu kosten los alle
Antworten auf alle Fragen. Selbst auf welche, die nie gestellt wurden.
»Ganz ehrlich, ich kann den Watzke nich mehr hörn«
Paris
hat seine Cafés, Athen seine Agora, Dortmund hat seine Trinkhallen.
Hier versammeln sich die Leute nicht nur zum Kaufen, sondern zum Klönen.
Denn die Leute wollen, nein: sie müssen sich freireden wie jener
Rentner in Cordjacke. Vor allem über Borussia. Es ist der erste Freitag
im Juli, der BVB startet in die Vorbereitung. Nach einem Gewitter
scheint die Sonne wieder über Westfalen. Die Menschen gehen raus an die
frische Luft, und ihr erster Weg führt ohne Umschweife an die
Trinkhalle, oder besser: anne Bude.
Nahe des Westparks lehnt sich Olaf Schoolmann durch das Fenster neben den großen Scheiben, die mit BVB-Aufklebern dicht bekleistert sind. Schoolmann ist 50 Jahre alt und gebürtiger Bremer. Manchmal rutscht ihm das »Moin« vor dem »Tach« raus. Heute muss er eine Zwölf-Stunden-Schicht durchkämpfen, die Trinkhalle gehört seinem Stiefsohn, die gesamte Familie arbeitet hier. Doch gerade sind alle im Urlaub. Schoolmann ist jetzt ein Ein-Mann-Kader, mit einstudierten Laufwegen vom kleinen Verkaufsfenster zum Kühlschrank und zurück. Auf den BVB angesprochen, streckt er die Handflächen von sich, dann fährt er sich über die kurzen grauen Haare. Schoolmann geht regelmäßig auf die Süd. »Der Tuchel hat die Punkte doch geholt. Den Pokal. Die Saison davor mit 78 Punkten bester Vizemeister aller Zeiten. Ich versteh das nich.«
Schoolmann ist ein ruhiger Typ. Er mag es, wenn am Spieltag auch gegnerische Fans hier zusammen mit Einheimischen stehen und lockere Sprüche wechseln. Der öffentliche Streit oder das Hickhack um Aubameyang machten ihm mehr zu schaffen als jede Zwölf-Stunden-Schicht. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und schaut angestrengt hoch zu einem kleinen Bildschirm in der Ecke. „Wenn der Watzke überall auftritt, ganz ehrlich, ich kann’s auch nich mehr hörn.“
Schoolmann begrüßt einen Mann im Dortmund-Trikot. Der hört nur den Namen Watzke und winkt ab. „Selbstdarsteller“, sagt er trocken und bestellt. Doch Schoolmann schüttelt den Kopf. Tabak anschreiben macht er nicht mehr. Drei Flaschen Hansa aber, die gehen noch auf den Deckel. Trinkhallen sind hier auf Vertrauen gebaut, schon immer, aber noch mehr, seitdem die Supermärkte fast durchgängig geöffnet und die Tankstellen ihr Sortiment vergrößert haben. Also setzen die Trinkhallen auf den Service, den die anderen nicht bieten können: einen Deckel und ein Ohr. Im Gegenzug bekommen sie auch mal ehrenamtliche Dienste von Stammkunden zurück.
»Hat der Tuchel gewürfelt oder wat?«
Zwei Straßen weiter, im bekannten
»Adler59«-Kiosk, steht ein tätowierter Mann mit gelbem Shirt und kahlem
Kopf hinter einem Verkaufsregal, links von der verwaisten Kasse. Er
lehnt die knochigen Hände auf einen Stapel von Bierkästen, wiegt den
Kopf vorbei an einem Spielzeugauto und einer alten Küchenwaage im Regal
vor ihm, blinzelt angestrengt Richtung Tür. Der Verkäufer ist gerade
hinten im Hof beschäftigt, als die Postbotin mit drei Paketen
hereinkommt. Der Mann am Bierkastenstapel sagt ruhig: »Stell ab,
passiert nix, ich bin hier.« Die Postbotin schaut verdutzt. »Du bis’ neu
hier, wa? Ich bin hier Detektiv, wat meinse, wat hier geklaut wird.«
Der
Mann will nicht, dass sein Name irgendwo auftaucht, außerdem muss er
gleich los. Er hat keine Zeit. Aber für den BVB, da nimmt er sich noch
eine Dreiviertelstunde, um Kommentare abzugeben. »Watzke, Watzke – klar
labert der viel. Aber der hat den Verein am Kacken gehalten. Ohne den
und den Rauball wär’n wir fünfte Liga. Und hör mir auf mit dem Tuchel
…«
»Den
konnt ich noch nie leiden!«, ruft ein Mann mit einem
BVB-Schlüsselanhänger um den Hals, der gerade an der Kasse eine Packung
TrumpetTabak kauft. »Der war irre, wie der die Mannschaft umgekrempelt
hat und dat System. Da war imma Streit, imma Terz. Jede Woche. Hat der
gewürfelt oder wat?« Der selbsternannte Detektiv fügt vom
Bierkastenstapel aus an: »Wie mittem Sahin im Finale.« »Siehse, dat
wusste no’ nimmal die Mannschaft. Und wenn ich dann sehe, wie se Krämpfe
kriegen. Ich hab früher auch beim BVB gespielt, inne Jugend. Da bin ich
vom Bau mit Blasen anne Finger hin auf’n Platz.«
An diesem Punkt
kippt das Gespräch in einer Trinkhalle für gewöhnlich in einen
biografischen Exkurs, der wie auf einem Buchrücken kurz abgehandelt und
mit einem Zitat garniert wird. Marc (»Vorname reicht«), der Mann mit dem
BVB-Schlüsselanhänger, erzählt also, wie er in der Jugend vom BVB
spielte, das Zeug für ganz oben hatte, aber dann ein paar Bierchen zu
viel trank. Er hatte einen Autounfall und lag im Koma, danach änderte er
sich. Zitat: »Der liebe Gott hat gesacht, den kann ich hier oben nich
gebrauchen. Und der Teufel wollte nich, datt ich ihm unten alles
wegsaufe. Da hab ich überlebt. Nächstet Jahr bin ich zehn Jahre trocken.
So, ich muss los.«
Ein gespaltener Klub
Die
zwei Trinkhallen liegen nicht weit auseinander, wohl aber die Meinungen
ihrer Besucher. Die einen gegen Watzke, die anderen gegen Tuchel. Die
Eruptionen im Verein haben deutliche Risse durch die Dortmunder Basis
gezogen. Das Fanzine schwatzgelb.de, der verlässlichste Seismograf für
die Anhängerschaft, hielt fest: »Watzke und Tuchel haben gemeinsam den
Verein enteint. Borussia Dortmund 2017 ist Pokalsieger und
Champions-League-Teilnehmer – und ein gespaltener Klub.«
Für
die einen war Tuchel der kalte Analytiker, der zu wenig Respekt und
Hingabe für die Leute im Verein aufbrachte, wenn nicht sogar für den
Verein selbst. Für die anderen ist Watzke der eitle Patriarch, der den
kritischen Trainer willkürlich abgesetzt hat. Dabei, das muss gesagt
werden, stellten sich auch Sportdirektor Michael Zorc und etablierte
Spieler gegen Tuchel. Doch der breite Zorn richtete sich gegen Watzke.
Als er auf der Leinwand beim Pokalfinale zu sehen war, kamen aus dem
BVB-Block unüberhörbare Pfiffe. Ein solcher Unmut gegen einen der Retter
bei der Beinahe-Pleite 2004 war lange undenkbar.
Der interne
Konflikt beim BVB schwelte schon monatelang, doch er bekam eine
besondere Dynamik durch den 11. April. An diesem Tag zündeten drei
Sprengsätze am Mannschaftsbus unmittelbar vor dem Teamhotel. Die
Spieler, Trainer und Betreuer überlebten diesen Anschlag nur mit Glück.
Bereits am folgenden Tag musste der BVB das Champions-League-Spiel gegen
Monaco nachholen. Diese Ansetzung verursachte den bekannten „Dissens“
zwischen Watzke und Tuchel. Ende Mai teilte der Geschäftsführer dem
Trainer dessen Beurlaubung mit. In jenem Teamhotel, vor dem auch Tuchel
um sein Leben gezittert hatte. Noch zweieinhalb Monate später, an diesem
Freitag im Juli, ist die Schwere des Anschlags vor dem Hotel sichtbar.
Die Hecken, in denen die Sprengsätze steckten, wirken noch immer wie
rasiert.
Große Fresse, leere Beute
Nicht weit entfernt vom Hotel liegt der Stadtteil Hörde und am Steinkühlerweg eine der ältesten Trinkhallen der Stadt. Das Verkaufsfenster befindet sich links neben der großen Glasfront, in der vergilbte Aufnahmen legendärer Dortmunder Mannschaften hängen. Über dem Kühlschrank thront ein BVB-Schal aus den neunziger Jahren. Der Verkäufer döst links in einer Ecke barfuß auf einer Kiste Bier. Doch nach einem kurzen Klopfen springt er auf, als könne er Usain Bolt noch einige Meter im Sprint abnehmen. Seine grauen Haare erinnern etwas an Rudi Völler, sein Blick ist so starr wie ein Laserpointer.
»Zehn Zentimeter – und wir hätten eine Tragödie gehabt. So wie Manchester United bei dem Flugzeugunglück«, sagt er. Um zehn Zentimeter sollen die Metallstifte der Sprengsätze die Spieler verfehlt haben. Der Besitzer der Trinkhalle will seinen Namen nicht nennen, auch wenn ihn jeder Kunde natürlich mit dem Vornamen begrüßt. »Schreib auf: Ich bin Gigi Riva.« Wie Italiens Star der sechziger Jahre. Dabei kommt der Mann ursprünglich aus Schlesien, arbeitet seit Jahrzehnten in dieser Trinkhalle. Er spricht ohne Pause. Und er liebt Metaphern fast so sehr wie den BVB.
Tuchel?
»Tuchel wollte die Siebenmeilenstiefel von Klopp anziehen. Er hatte aber nur die Schuhgröße von einem Gartenzwerg.«
Watzke?
»Er hat uns aus den Trümmern geholt. Aber das letzte Jahr hat mich enttäuscht. Egal ob dir die Nase vom Trainer passt oder nicht, du musst seine Meinung anhören. Hat er nicht gemacht, bei den Transfers zum Beispiel. Das zeigt?«
Das zeigt was?
»Das zeigt drei Dinge. Schreib auf: Unwissen. Dummheit. Arroganz.«
Aubameyang?
»Hör auf. Was passiert denn mit den Leuten, die weggehen? Sahin, Kagawa, Götze. Was war gewesen? Große Fresse, leere Beute. Ohne den BVB sind sie nur die Hälfte wert. So isset.
Eine alte Dame schiebt ihren Rollator an den Verkaufstresen. „Hallo, Frau Meyer.“ Sie zeigt drei Finger. Gigi Riva bringt ihr drei Schachteln Marlboro. Dann legt Frau Meyer ihr Portemonnaie auf den Tresen. Gigi schaut durch und kramt einige Münzen hervor. »Frau Meyer, das reicht nicht. Zwölf Euro fehlen. Bringen Sie mir morgen, ja?« Dann holt er vier Feuerzeuge, lehnt sich über den Tresen und lässt sie zusammen mit der Geldbörse in Frau Meyers Handtasche gleiten. Er sagt: »Nagelneue Feuerzeuge. Mit Autogramm von Mick Jagger.«
Der Dortmunder Stadtteil Hörde hing jahrzehntelang vor allem an dem Stahlunternehmen Hoesch und dem Werk Hermannshütte. Im Jahr 2001 wurde es stillgelegt, die Maschinen nach China verkauft. Die Arbeiter blieben zurück, ohne Arbeit. Gigi Riva spricht bei diesem Thema noch schneller. »Schreib auf: Wir waren wie im zwanzigsten Stock und fahren runter in den fünften – und da merken wir, dass die Bremse kaputt ist. Die Politik hat uns hier vergessen. Wir sind gebrochen. Jetzt sind wir Leute hier wie Schnee auf dem Montblanc: Wir schmelzen.«
Doch mit der »dünnen Patte«, also dem wenigen Geld, ist es bald vorbei. Morgen halte er den Scheck in der Hand – Eurojackpot. Er habe die richtigen Zahlen schon eingetragen und dann gehe es richtig ab. In der kleinen Verkaufshalle sind die großen Pläne schon durchgespielt. Die Millionen gehen an drei Vereine: den BVB, na klar, dann den SV Meppen, weil er da auch oft zuschaut – und den VfL Schwerte aus der Nähe. »Da bauen wir ein großes Gelände. Mit Autogramm von Mick Jagger.«
Die große Angst – so wie Bayern werden
Es geht zurück in die Dortmunder Innenstadt, vorbei am Phoenix-See, wo einige Spieler wohnen, von Hörde ins Kreuzviertel, hier mischen sich die Generationen. Die Jungen kaufen Blättchen, die Alten schieben Kippen in eine metallene Clubmaster-Cigarillo-Dose. Eine ältere Dame, seit 41 Jahren Dauerkarte, kommt gerade vom Bridge und liefert vor der Trinkhalle am Hotel Drees eine derart messerscharfe Analyse der letzten Saison, dass der komplette »Doppelpass« verstummen würde. Dann spricht sie über Assad und über »Trump, den Tonti«. Tonti ist die pottsche Kurzform von Tontilon und wäre mit »Vollidiot« nur unzureichend übersetzt.
Man müsste ihr einen eigenen Bericht widmen. Doch die Dame will absolut nicht, dass ihr Name und ihr Foto in der Zeitschrift erscheinen. Sie will keine »Fake News« in den »Schmartphones«, wie sie lachend sagt, gerade zum Thema Watzke und Tuchel nicht. Es ist brisant. Die Leute in den Dortmunder Trinkhallen erzählen an diesem Tag sehr viel, doch sie wollen nicht sofort in den Medien auftauchen. Nicht dass jemand sagt, sie wollten sich wichtig machen. Das wäre hier der schlimmste Vorwurf.
Am Abend dieses Trinkhallen-Tages und nach langen Geschichten wird klar, welche Gewichte an den Dortmunder Themen hängen. Und was sie so schwer macht. Trainerwechsel und Streitigkeiten gab es schon häufiger, doch in Dortmund treibt die Fans eine Angst um: Sie wollen nicht werden wie die Bayern. Borussia, das war auch immer der Gegenentwurf zur Schickeria, wo der Erfolg den Alltag bestimmt. In diesem Jahr allerdings flog in Dortmund der erfolgreichste Trainer, da bestimmten Eitelkeiten die Schlagzeilen, da löste selbst ein Pokalsieg nur gedämpfte Emotionen aus. Daniel (»Vorname reicht«), ein 37 Jahre alter Mann mit dunkler Mütze, Rucksack und Vollbart, war in Berlin. »Das bestimmende Gefühl war einfach nur Erleichterung statt Freude. Das hat man am Support gemerkt.«
Ein letzter Besuch am Borsigplatz
Er
geht seit 1992 zum BVB und fand die vergangenen Monate einfach nur
absurd. „Es ist mir so auf den Pin gegangen. Überall hieß es nur: Wie
hoch gewinnen wir?“ Auch er spricht es nicht aus, aber die Frage steht
im Raum: Wie viel „Mia san mia“ steckt plötzlich in „Echter Liebe“?
Dortmund zehrte jahrelang von dem Gallier-Denken »Wir gegen die Großen«.
Nun ist der Klub oben etabliert, und im vergangenen Jahr wirkte es wie
»Wir gegen uns selbst«. Als würde Majestix auf Asterix losgehen.
Daniel geht in die Trinkhalle »Kaan Kiosk« direkt am Borsigplatz. Hier wurde der Verein gegründet, hier feierte die Mannschaft den Pokalsieg. Die Gegend ist multikulturell, die obligatorische Frage des Feuilletons »Was ist Heimat?« lässt sich hier aber schnell beantworten. In der Trinkhalle hängt eine große Fahne vom Westfalenstadion, darunter steht: »Heimat«. Daneben ist die Dortmunder Skyline abgebildet, darüber das in der Türkei beliebte blaue Auge gegen den bösen Blick. Daniel holt sich eine Tiefkühlpizza für den Freitagabend und schlägt mit dem türkischen Besitzer ein.
Was er sich für die neue Saison wünscht? »Ich will kein Schickimicki, kein Tiki-Taka. Ich will ehrlichen Fußball und keine Risse im Verein. Dat isset schon. Alles andere is Kokolores.«