Ron Ulrich

Redakteur & Reporter

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Interview

„Er war so besessen, dass er sich sogar über Hitler hinwegsetzte“

Am 11. April 1961 begann der Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Schoah. Gabriel Bach, stellvertretender Ankläger, kam ihm sehr nah. Und an seine Grenzen

Der Beitrag erschien auf Zeit online.

Gabriel Bach (vorne 2. v. r.) beim Prozess

Gabriel Bach hat eine große Karriere gemacht: 1969 wurde er zum Generalstaatsanwalt Israels ernannt, 1982 wechselte er als Richter an den obersten Gerichtshof des Landes. Er war an vielen bedeutenden Prozessen beteiligt, saß in diversen Gremien auf höchster Ebene. Seine wichtigste Rolle aber: Als stellvertretender Generalstaatsanwalt sowie Leiter der Voruntersuchung half er 1961 im Prozess gegen Adolf Eichmann, die Schrecken der Schoah aufzuarbeiten. In seiner Wohnung in Jerusalem, in der er mit seiner Frau Ruth lebt, spricht er fast 60 Jahre später in einem klaren, beinahe harten Deutsch über den Gerichtsfall, nach dem den 92-Jährigen noch heute Menschen aus aller Welt fragen. Seine Erinnerungen sind sehr detailreich, Bach gerät selten ins Stocken. Nur einmal hält er während des dreistündigen Gesprächs länger inne.

ZEIT ONLINE: Gabriel Bach, Sie wurden 1927 in Halberstadt geboren und sind in Berlin aufgewachsen. Vor den Nazis flohen Sie mit Ihren Eltern über Holland nach Palästina, Verwandte von Ihnen wurden während der Schoah ermordet. Welche Rolle spielte das, als Sie als Ankläger im Eichmann-Prozess auftraten?

Gabriel Bach: Es gab Momente während des Eichmann-Prozesses, die mich an meine Familie erinnerten. Mein Onkel beispielsweise lebte in den Dreißigerjahren in einer kleinen deutschen Stadt mit gerade einmal 17 Juden. Er hatte im Ersten Weltkrieg in der deutschen Armee gedient und eine besondere Auszeichnung für seine Verdienste erhalten. In der Pogromnacht dachte er: Wenn ich diese Auszeichnung auf meiner Jacke zeige, werde ich verschont. Im Gegenteil: Die SS-Leute haben ihn die Treppe heruntergeworfen und seine Brille kaputt geschlagen. Sie brachten ihn nach Dachau. Danach zwangen sie ihn, für die Fahrt dorthin zu bezahlen: 18,20 Mark. Er hatte noch 20 Mark in der Tasche. Meiner Tante haben die Nazis später das Rückgeld erstattet.

ZEIT ONLINE: Sie bekam tatsächlich 1,80 Mark zurück?

Bach: Es ist schwer zu glauben, aber diese makabre Bürokratie hat sich durch den gesamten Krieg gezogen. Darauf wollte ich gerade hinaus. Im Eichmann-Prozess habe ich später Aussagen von Nazis gelesen wie: „Wir können es den Deutschen nicht zumuten, dass die Juden ihre Haftstrafen nicht absitzen.“ In Auschwitz gab es daher ein Lager für Juden mit Gefängnisstrafen. Das Kuriose: Genau dieses Lager hat viele der Insassen vor dem Gas gerettet.

ZEIT ONLINE: Was wussten Sie vor dem Prozess über Adolf Eichmann?

Bach: Sein Name war mir in vielen anderen vorherigen Prozessen schon begegnet. Es war klar, dass er der Einzige war, der den ganzen Krieg über seinen Posten behalten hatte. In vielen Dokumenten wurde die Tötung aller Juden „Operation Eichmann“ überschrieben. Zwei Tage nach Eichmanns Ergreifung in Argentinien hat mir der israelische Justizminister mitgeteilt, dass ich einer der Ankläger sein und die Voruntersuchung leiten würde. Sie sollte in einem leeren Gefängnis in Haifa stattfinden. So wurde ich nach Eichmanns Verhaftung sein einziger Kontakt zur Außenwelt.

ZEIT ONLINE: Wie verlief Ihr erstes Treffen mit Eichmann?

Bach: Das werde ich nie vergessen. Ich saß in dem Büro des Gefängnisses in Haifa unweit seiner Zelle und las die Biografie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Er beschrieb, wie die Nazis über 1.000 jüdische Kinder pro Tag getötet hatten. Die Kinder hätten auf dem Boden um ihr Leben gefleht. Höß schrieb, wie er Kniezittern bekam, während er sie in die Gaskammern stieß – und wie er sich für diese Schwäche schämte. Schließlich habe ihm Obersturmbannführer Eichmann erklärt: „Wir müssen die jüdischen Kinder zuerst töten. Denn wo ist die Logik, wenn man eine Generation von älteren Menschen umbringt, aber die Keimzelle dieser Rasse am Leben lässt?“ Ich war entsetzt. Zehn Minuten später klopfte ein Polizist und sagte, dass Eichmann mich sprechen wolle. Da fiel es mir schwer, eine ruhige Miene aufzusetzen.

ZEIT ONLINE: Worum ging es in diesem Gespräch?

Bach: Zunächst habe ich ihm gesagt, dass er mit mir über persönliche und gesundheitliche Themen sprechen könne, aber nicht über seine Vergehen. Denn dadurch wäre ich vom Ankläger zu einem Zeugen geworden. Außerdem sollte er mir seinen Anwalt nennen. Eichmann wollte Robert Servatius, der schon bei den Nürnberger Prozessen als Verteidiger gearbeitet hatte. Ich stimmte sofort zu. Da fragte er, ob ich mich nicht zuerst mit der israelischen Regierung beraten wolle. „Das ist nicht nötig“, sagte ich knapp. Denn die Regierung ließ ihm in der Frage seines Anwalts freie Wahl. Das stimmte Eichmann sehr zufrieden. Aber ich stand immer noch unter Schock von dem, was ich zuvor gelesen hatte.

Gabriel Bach: 2011 zeigte Gabriel Bach bei einem Besuch der Ausstellung "Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht" in der Berliner Topographie des Terrors ein Bild, auf dem man ihn vor dem Angeklagten sieht.
2011 zeigte Gabriel Bach beim Besuch einer Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors ein Bild, auf dem man ihn vor Eichmann sieht. © John MacDougall/AFP/Getty Images

ZEIT ONLINE: Sie selbst wären Eichmanns Tötungsmaschine als Kind beinahe zum Opfer gefallen. Mögen Sie uns etwas über Ihre frühen Erfahrungen erzählen, angefangen in Halberstadt?

Bach: Halberstadt habe ich leider nicht wirklich kennengelernt. Im jugendlichen Alter von zwei Monaten habe ich mich entschieden, die Stadt zu verlassen, um das mal etwas scherzhaft auszudrücken. Mein Vater war der Generaldirektor einer der größten Kupferfabriken in Deutschland. Die Firma zog im Jahr meiner Geburt nach Berlin und wir als Familie mit. Vor einiger Zeit habe ich bei einem Besuch in Deutschland zum ersten Mal mein Geburtshaus besucht. Im Stadtzentrum fand ich später eine Statue zum Gedenken an die deportierten Juden, auf einer Tafel waren die Namen verzeichnet, darunter der Satz: „Keiner kam zurück.“

ZEIT ONLINE: Wie haben Sie die Naziherrschaft in Berlin gespürt?

Bach: Ich kann mich noch relativ klar erinnern: Wir wohnten in der Konstanzer Straße nahe dem Preußenpark, ich ging in eine zionistische Schule, die Theodor-Herzl-Schule am Adolf-Hitler-Platz. Welch eine Ironie! In den Parks standen Bänke in den Farben Rot und Grün, etwas daneben welche in Gelb mit der Aufschrift: „Nur für Juden.“ Dort mussten wir sitzen.

ZEIT ONLINE: War ansonsten ein halbwegs normales Leben möglich – zumindest anfangs?

Bach: Die Wochenenden haben wir meist im Grunewald verbracht. Wir haben Fußball gespielt, sind spazieren gegangen oder auch mit Motorbooten auf dem Wannsee gefahren. In der Konstanzer Straße gab es einen Zeitungsstand, wo Der Stürmer auslag. Auf dem Titel musste ich irgendwann ein Foto unserer Familie bei einem dieser Ausflüge sehen und die Überschrift lesen, in etwa: „Juden fahren immer noch auf dem Wannsee spazieren!“

ZEIT ONLINE: Wie alt waren Sie da? Haben Sie schon verstanden, was passierte?

Bach: Das war 1935, da war ich acht Jahre alt. Das Bewusstsein kam erst nach und nach. Auch ein Jahr später, als Zuschauer bei der Olympiade 1936, habe ich die Propaganda noch nicht so wahrgenommen. Aber als wir Deutschland verließen, war mir schon klar, warum wir das machen mussten.

ZEIT ONLINE: Wann geschah das?

Ich dachte oft spätnachts: Jetzt wird er einlenken

Bach: Erst 1938, da war ich mittlerweile elf Jahre alt. Mein Vater wollte mit uns nach Holland ausreisen, weil seine Firma dort ein Büro hatte. Alle meine Onkel sind mit ihren Familien in Deutschland geblieben und verhaftet worden.

ZEIT ONLINE: Wie lange blieben Sie und Ihre Familie in den Niederlanden?

Bach: Bis zum März 1940 – einen Monat vor der deutschen Invasion. Mein Vater hatte einen sechsten Sinn.

ZEIT ONLINE: Oder Sie hatten einfach großes Glück.

Bach: Das trifft es auch. Wir reisten auf dem Schiff Patria nach Palästina. Bei der Fahrt nach uns ist sie gesunken – und über 250 Menschen sind gestorben.

ZEIT ONLINE: Sie haben später in England Jura studiert. Hatten Sie durch Ihre eigene Biografie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden?

Bach: Mir haben viele meiner Freunde schon in der Schule dazu geraten, Jurist zu werden. Wenn es da irgendein Problem gab, also mögliche Rauswürfe von Schülern oder die Verschiebung von Klausuren, sollte ich die Klasse bei den Lehrern oder der Schulleitung vertreten. Ich habe also schon früh geübt.

ZEIT ONLINE: Sie mussten in Ihrem Leben mehrmals vor den Nazis fliehen. Wie sind Sie persönlich mit dem Verfahren gegen Adolf Eichmann umgegangen?

Bach: Gerade während der Untersuchung habe ich nachts lange wach gelegen. Mir schwirrte der Kopf. Die deutsche Regierung hatte uns Millionen von Dokumenten geschickt, von der SA, der SS, der Wehrmacht. Das waren so viele Schriftstücke, dass ich jedem der Polizisten, die mit uns den Fall untersuchten, ein Land in Europa zuteilte. Wenn sie eine Stelle als relevant erachteten, sollten sie mir diese zeigen. Ich las unter anderem Briefe an Eichmann, in denen er um die Verschonung einer jüdischen Familie oder einer jüdischen Persönlichkeit gebeten wurde. Bis wir seine Antwort in den Akten fanden, vergingen manchmal einige Tage. Dazwischen dachte ich oft spätnachts: In diesem Fall wird Eichmann einlenken.

ZEIT ONLINE: Um welche Fälle ging es?

Bach: Einmal wandte sich ein General an ihn, der das Kommando in Paris innehatte. Er schrieb von einem Herrn Weiß, einem jüdischen Professor, der ein ausgewiesener Experte für Radartechnik war. Der General wollte dessen Wissen für die Deutschen nutzen und wies deswegen an, ihn und seine Frau nicht zu deportieren. Als ich das las, dachte ich: Ein einzelner Mann, mitten im Krieg, mit wertvollen Informationen für die Deutschen – da musste Eichmann doch dem Gesuch stattgeben. Einige Tage später lag Eichmanns Antwort auf meinem Tisch. Er wies den General zurecht und schrieb weiter: „Die deutsche Armee hat die Patente dieses Juden sowieso schon übernommen. Da sehe ich keinen Grund, die Deportation auch nur um einen Tag zu verschieben.“

ZEIT ONLINE: Gab es Fälle, in denen Eichmann einlenkte?

Bach: Nein, keinen einzigen. Ich will Ihnen zwei weitere Beispiele nennen, die mich umtrieben. Einmal wandten sich die Italiener an ihn, die jüdische Witwe eines hochdekorierten Offiziers zu verschonen. Die Italiener waren Deutschlands Verbündete – doch Eichmann gewährte auch hier keine Gnade. Kurz darauf las ich den Brief des Leiters der faschistischen Partei in Holland. Es klingt kurios, aber diese Partei hatte 17 jüdische Mitglieder, die sogar Spitzeltätigkeiten übernehmen sollten. Der Leiter schrieb: „Wenn diese Leute deportiert würden, würde das demoralisierend auf die gesamte Partei wirken.“ Eichmanns Antwort: „Dann warten wir zwei Wochen mit der Deportation, bis sich alle an den Gedanken gewöhnt haben.“

ZEIT ONLINE: Sie haben eben auf ein Bild von Ihnen auf Ihrem Wohnzimmertisch geblickt. Stammt es aus dem Prozess?

Bach: Ja. Es entstand nach der einzigen Vernehmung eines Zeugen, der bereits in der Gaskammer gestanden hatte. Er war damals elf Jahre alt. Als die Nazis die Kinder nach Größe und Schwäche aussortierten, errichteten sie ein Tor mit zwei vertikalen und einer horizontalen Stange. Wenn ein Kind diese Höhe nicht erreichte, musste es direkt in die Gaskammer. Der Junge war sehr klein, deswegen hob ihn sein älterer Bruder etwas hoch. Ein SS-Mann sah das und brachte den Bruder weg. Man hat ihn nie wieder gesehen.

ZEIT ONLINE: Was ist mit dem anderen Jungen passiert?

Bach: Er hat erzählt, wie er mit 200 anderen Kindern in die Gaskammer geführt wurde. Dort hat man abgeschlossen – und es war absolut dunkel. Die Kinder haben angefangen zu singen, um sich Mut zu machen. Er sagte, einige Minuten haben wir gesungen und als erst nichts geschah, haben wir angefangen zu weinen und zu schreien. Und da öffnete sich die Tür. Wir Staatsanwälte haben später über andere Beweise erfahren: Da war ein Zug mit Kartoffeln in Auschwitz angekommen, und es gab nicht genug SS-Leute, um ihn zu entladen. Man hat die Tür aufgemacht und 30 Kinder, die nahe am Eingang standen, herausgenommen – er war einer von denen. Dann hat man wieder abgeschlossen und die anderen 170 wurden gleich getötet. Die 30 haben bei der Entladung der Kartoffeln geholfen, dann wurden sie auch getötet. Aber der wachhabende SS-Mann hat behauptet, dieser Junge hätte einen Schaden an einem der Lastwagen angerichtet, und gesagt: Bevor der Junge mit der nächsten Gruppe ebenfalls getötet wird, soll er als Strafe ausgepeitscht werden. Der SS-Mann, der ihn auspeitschen sollte, hat aber eine Zuneigung zu dem Jungen entwickelt und stellte ihn als Schuhputzer an. Auf diese Weise war er der Einzige von den 200, der am Leben geblieben ist.

ZEIT ONLINE: Sie schweigen.

Bach: Wissen Sie, es gab viele grausame Momente während des Prozesses, aber bei dieser Geschichte mit den singenden und weinenden Kinder haben auch die Richter eine Pause anberaumt. Ich blieb wie erstarrt auf meinem Platz sitzen. Dabei ist dieses Foto entstanden.

00:01:54 Gabriel Bach während des Eichmann-Prozesses. Klicken Sie auf den Play-Knopf oben links, um Bachs Erzählungen im Originalton zu hören. © privat

ZEIT ONLINE: Wie ging es weiter?

Hannah Arendt hat Fakten falsch dargestellt

Bach: Das Gericht pausierte und ich ging in mein Anwaltszimmer. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Vertreter der Gegenseite trat ein. Die Verteidigung hatte noch einen anderen Anwalt mitgebracht – neben Doktor Servatius. Er war ein junger Mann, der den Krieg nur als Baby miterlebt hatte. Ihn trieb ein Wissensdurst an, alles über diese Zeit zu erfahren. Nach dieser Geschichte des Jungen war auch er total am Ende und fiel mir in die Arme. Ich musste ihn trösten und ihm einen Kaffee geben.

ZEIT ONLINE: Wer war der Anwalt?



Bach: Ich möchte seinen Namen nicht nennen, vielleicht ist er noch als Anwalt tätig. Er hat sich nicht klar gegen die Nazis gestellt, sondern ist sehr sachlich seiner Arbeit nachgegangen. Der Mann hat wie ein Verteidiger gehandelt und obwohl wir auf verschiedenen Seiten standen, hatten wir doch eine gewisse Sympathie füreinander. Oder nennen wir es eher Respekt.

ZEIT ONLINE: Die Verteidigung und Eichmann beriefen sich darauf, er sei bloßer Befehlsempfänger gewesen …

Bach: … dazu will ich Ihnen nur von einem Dokument erzählen, das die Antwort darauf gibt. Hitler hatte mit den ungarischen Alliierten 1944 ein Abkommen geschlossen. Sie sollten weiter an der deutschen Seite kämpfen, dafür würde im Gegenzug 8.700 jüdischen Familien die Ausreise aus Budapest gestattet werden. Ich bekam eine Depesche des deutschen Botschafters in Budapest an den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Dieser schrieb, dass Eichmann wegen des Abkommens außer sich gewesen sei vor Wut: „Er glaubt, dass diese Familien wichtiges biologisches Material für den Wiederaufbau ihrer Rasse darstellen und befiehlt, sie noch schneller zu deportieren.“ Eichmann war also derart besessen von der Judenfrage, dass er sich sogar über Hitlers Entscheidungen hinwegsetzte. Das hat auch Hannah Arendt nicht verstanden.

ZEIT ONLINE: Sie schrieb für die Zeitschrift The New Yorker über den Prozess. Haben Sie sich mit ihr getroffen?

Bach: Nein. Ich hatte ihr vor dem Prozess ein Treffen angeboten, das sie aber ablehnte. Das hat mich gewundert, schließlich muss sie ja nicht teilen, was wir sagen. Dennoch habe ich angeordnet, dass sie alle Dokumente einsehen konnte. Sie sollte sich ihr eigenes Bild machen. Aber sie hat die Fakten aus den Dokumenten immer wieder völlig falsch dargestellt. Sie schrieb in ihrem Buch, dass sich Eichmann nur über Himmlers Befehl hinweggesetzt habe und Hitler für ihn ein Halbgott geblieben sei. Natürlich war er das, nur macht das die Angelegenheit, dass Eichmann Hitlers Befehl hinterging, um noch mehr Juden zu ermorden, noch schlimmer.

ZEIT ONLINE: Sie sprachen von mehreren falschen Darstellungen.

Bach: Ja, Dutzende. Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel für die Verdrehungen von Hannah Arendt nennen: Während des Krieges hatten Leiter der jüdischen Abteilungen in Polen mit den Nazis kooperiert, ihnen Listen von Juden ausgehändigt, um ihre eigenen Familien zu retten. Arendt kritisierte, dass wir diesen Umstand im Prozess nur kurz erwähnt haben. Wir hätten ihn noch mehr betonen sollen, schrieb sie, weil dies zu mildernden Umständen für den Angeklagten hätte führen können, sie zweifelte ja grundsätzlich an einem fairen Ablauf des Prozesses von israelischer Seite. Aber wie hätte die Kooperation einiger Juden aus Angst vor den Nazis zu mildernden Umständen für Eichmann führen sollen? Selbst Doktor Servatius sagte zu mir: „Herr Bach, wenn ich glauben würde, dass das dem Angeklagten helfen würde, hätte ich es verwendet. Aber für mich ist das kein mildernder Umstand für meinen Klienten, sondern ein erschwerender.“

ZEIT ONLINE: Arendt schrieb in ihrer Zusammenfassung des Prozesses von der „Banalität des Bösen“ und nannte Eichmann einen „Hanswurst“. Wie war Ihr Eindruck?

Bach: Er wusste, wovon er sprach. Ihm war noch immer der Stolz anzusehen, wenn er von seinen früheren Plänen berichtete. So erzählte er beispielsweise von seinem Befehl, dass die aus Ungarn deportierten Juden Postkarten an ihre Freunde schicken sollten. Und zwar bevor sie in die Gaskammern kamen. Auf den Postkarten sollten sie schreiben, dass sie sich in einem wunderschönen Ferienort befänden: „Schöne Ausflüge, wenig Platz, also kommt so schnell wie möglich.“

ZEIT ONLINE: Mit anderen Worten: eine Falle.

Bach: Viele Juden, die nach Auschwitz kamen, wussten nichts über den Ort. Sie hatten nur diese Postkarte. Ich fand während des Prozesses heraus, dass noch ein Zeuge mit dieser Karte in Israel lebte und bat ihn, zu mir zu kommen. Der Mann erzählte dann im Prozess, wie er mit seiner Frau, einem zwölfjährigen Sohn und einer zweijährigen Tochter mit dieser Postkarte nach Auschwitz kam. Sie wurden zur Selektion geschickt. Seine Frau und die Tochter mussten nach links. Nach einigen Minuten sagte der SS-Mann zu seinem Sohn: „Los, renn zu deiner Mama.“ Der Mann selbst sollte nach rechts. Er erzählte, wie er seine Familie in dem Gewusel aus den Augen verlor, einzig den roten Mantel seiner Tochter sah er noch. Er war wie ein roter Punkt, der immer kleiner wurde.

ZEIT ONLINE: Das Motiv erscheint einem sofort bekannt.

Bach: Diese Passage wurde von Fernsehsendern in der ganzen Welt gezeigt, alle Radiostationen in Amerika und Deutschland haben berichtet. Bis heute, wenn es irgendeinen Bericht über mich gibt, kommt diese Stelle vor.

ZEIT ONLINE: Ist der rote Mantel so auch in dem Film Schindlers Liste gelandet?

Gabriel Bach: Gabriel Bach mit seiner Tochter im roten Mantel.
Gabriel Bach mit seiner Tochter im roten Mantel © privat/unsplash.com

Bach: Ich habe gehört, dass Steven Spielberg so beeindruckt von der Aussage des Mannes war, dass er das in seinem Film zitiert hat. Mich hat das damals auch sehr bewegt. Als der Zeuge zum Schluss sagte: „So verschwand die Familie aus meinem Leben“, da verschlug es mir die Stimme. Zum Zeitpunkt des Prozesses war meine Tochter in dem gleichen Alter wie das Mädchen damals. Nur eine Woche zuvor hatte ich ihr auch einen roten Mantel gekauft. Am Tag vor dieser bewegenden Zeugenaussage hatte meine Frau ein Bild von meiner Tochter und mir aufgenommen, da hatte sie genau diesen Mantel getragen.

ZEIT ONLINE: War Stolz Eichmanns zentrale Emotion?

Bach: Nicht nur das, er war auch vollkommen unberührt, wenn es um die Grausamkeiten von Auschwitz ging. Wir fertigten einen 45-minütigen Zusammenschnitt von Filmdokumentationen aus dem Todeslager an. Es war absolut furchtbar. Aus Fairness vor dem Angeklagten durfte er den Film einen Tag vor dem Gericht ansehen. Ich habe seine Reaktion auf die Bilder genau studiert. Eichmann hat sich nicht gerührt, er war stoisch. Nur an einer Stelle sprang er hektisch auf und wandte sich an einen Wärter. Das war komisch. Nach der Vorführung lief ich zu diesem Wärter und fragte: „Warum war er auf einmal so erregt?“ Die Antwort: Ihm war eingefallen, dass er seinen dunkelblauen Anzug anziehen wollte. Das habe man ihm doch versprochen.

ZEIT ONLINE: Haben Sie bei Eichmann Zeichen der Reue erkannt?

Bach: Er nannte den Holocaust vor Gericht „ein Verbrechen“. Ich halte das für ein Lippenbekenntnis. Im Jahr 1956 hatte ihn der holländische Faschist Willem Sassen in Argentinien interviewt und das Manuskript an das Time Magazine gegeben. Wir erhielten die abgetippten Seiten mit Eichmanns handschriftlichen Änderungen. Er sprach davon, dass es eine „Pracht“ war, wie die Züge von Holland nach Auschwitz fuhren. Auf die Frage, ob ihm etwas leidtue, sagte er: „Ja, dass ich nicht scharf genug war, dass ich diese verdammten Interventionisten nicht genug bekämpfen konnte und jetzt der Staat Israel besteht.“ Das war 1956, elf Jahre nach Kriegsende.

ZEIT ONLINE: Eichmann wurde zum Tode verurteilt. Wie haben Sie auf das Urteil reagiert?

Bach: Das Urteil war noch nicht das Ende. Eichmann bat danach noch um eine Begnadigung. Der israelische Präsident sollte entscheiden. Meine Sorge war: Wenn er das Gesuch ablehnt, wird irgendwo auf der Welt ein jüdisches Kind entführt, um Eichmann freizupressen. Deswegen schlug ich vor, die Entscheidung um elf Uhr nachts bekannt zu geben und im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe um zwölf Uhr zu vollstrecken. Eines Abends kam ich gerade aus der Badewanne, als meine Frau vom Wohnzimmer aus rief: „Der Präsident hat das Gnadengesuch abgelehnt.“ Da schaute ich in den Spiegel und sah, wie ich blass wurde. Ich wusste: Jetzt geschieht es. Und hoffte, dass ich nie wieder in einem Prozess beteiligt sein werde, in dem es um die Todesstrafe geht. Eichmann war auch der Einzige, der in Israel je zum Tode verurteilt wurde.

ZEIT ONLINE: Haderten Sie mit der Todesstrafe?

Bach: Es gab Kritik an diesem Urteil – und wenn jemand gegen die Todesstrafe ist, dann kann ich das verstehen. Aber wir hatten sie schließlich nicht zu diesem Prozess eingeführt, sie hatte bereits bestanden.

ZEIT ONLINE: Wie erlebten Sie die Hinrichtung?

Bach: Man hat mich sogar eingeladen, der Exekution beizuwohnen. Doch nein, nein, dafür hatte ich keinerlei Gefühl. Ich sah meine Arbeit als erledigt an. Wir hatten den Prozess fair geführt und zwischendurch der Verteidigung sogar entlastendes Material übergeben. Wir haben nachgewiesen, dass Eichmann kein bloßer Befehlsempfänger war. Er war der Einzige, der den gesamten Krieg hindurch als Hauptreferent tätig war. In den Dokumenten war immer wieder von der „Operation Eichmann“ die Rede. Er hat jeden Tag Entscheidungen getroffen und dabei ohne Ausnahme Mord angeordnet. Wenn irgendjemand überhaupt die Todesstrafe verdient hat, dann er.

ZEIT ONLINE: Was hat der Eichmann-Prozess gesellschaftlich verändert?

Bach: Während des Prozesses bekam ich sehr viele Briefe von israelischen Lehrern. Sie berichteten, dass ihre Schüler am liebsten nichts mehr über den Holocaust hören wollten. Sie verstanden nicht, wie sich Millionen von Menschen haben abschlachten lassen. Das passte aus ihrer Sicht nicht zu Israel. Es war zwar nicht unsere primäre Aufgabe, aber wir haben im Prozess gezeigt, wie Eichmann und die Deutschen ihre Opfer in die Irre geführt haben. Dabei kam auch zur Sprache, mit wie viel Mut die Juden im Warschauer Ghetto Widerstand geleistet hatten. Die israelischen Schüler hörten das zum ersten Mal, sie wollten nach dem Prozess die Todeskammern besuchen. Auch in deutschen Schulen soll Auschwitz ein Thema geworden sein, das man bis dahin verschwiegen hatte. Außerdem fanden nach dem Eichmann-Prozess auch die anderen großen Prozesse statt, auch über Treblinka oder Majdanek. Es war wie eine Kettenreaktion.

Gabriel Bach: Das Bild zeigt Gabriel Bach am Holocaust-Gedenktag 2016 in Jerusalem.
Das Bild zeigt Gabriel Bach am Holocaustgedenktag 2016 in Jerusalem. © Gali Tibbon/AFP/Getty Images

ZEIT ONLINE: Eichmann hat Sie so lange beschäftigt. Wie haben Sie persönlich den Prozess verarbeitet?

Bach: Wenn man so einen Menschen über so lange Zeit fast jeden Tag sieht, dann ist das keine einfache Sache. Man kann den Prozess nicht einfach abschütteln, auch wenn ich anfangs versucht habe, einfach weiterzumachen. Ich hatte in der Folge viele arbeitsreiche Prozesse wie zur Entführung des El-Al-Flugzeugs durch palästinensische Gruppen 1968. Und ich habe als Generalstaatsanwalt sehr viele emotionale Fälle erlebt. Aber kein Prozess hat mich so mitgenommen wie der Eichmann-Prozess.

ZEIT ONLINE: Beschäftigt er Sie heute noch?

Bach: Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich nicht daran denke. Erst gestern erinnerte ich mich wieder an die Aufzeichnungen eines Professors aus dem französischen Lager Drancy. Er hatte dort einen Jungen getroffen, dem ein Schuh fehlte und der etwas abseits stand. Außerdem hatte er beim Zubettgehen eine geballte Faust. Der Professor fragte: „Was hast du da in deiner Hand?“ Der Junge öffnete die Faust, in der Hand lag ein halbes Biskuit. Der Junge sagte: „Das hebe ich auf, für meine Mama.“ Die Eltern aber waren schon lange deportiert. Und einige Tage später schrieb Eichmann an den Lagerleiter in Drancy: „Hocherfreut kann ich Ihnen mitteilen, dass die Kindertransporte jetzt nach Auschwitz fahren können.“